Umsturz vs. Kontinuität im postsowjetischen Raum – Einsichten aus Aserbaidschan

Umsturz vs. Kontinuität im postsowjetischen Raum – Einsichten aus Aserbaidschan

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Grassierende Korruption und Rent-Seeking durch die herrschenden Eliten, ökonomische Fehlentwicklungen, soziale Ungleichheiten und Autokratie sind charakteristische Krisenerscheinungen nahezu im gesamten postsowjetischen Raum[i], wenngleich Form und Ausprägungsgrad von Land zu Land variieren. Auch wenn derartige Missstände grundsätzlich destabilisierende Effekte entfalten, sind politische Umbrüche keine zwingende Folge. Im Zeichen dessen bewegt sich der postsowjetische Raum in einem Spannungsverhältnis zwischen Umsturz und Kontinuität. Während einige Länder in den vergangenen Jahren Herrschaftsstabilität wahren konnten (Turkmenistan, Aserbaidschan, Belarus, Russland etc.), gaben Wahlfälschungen andernorts Anlass zu Revolutionen. Den Anfang machte die Rosenrevolution in Georgien im Jahr 2003. Die Orangene Revolution in der Ukraine und die Tulpenrevolution in Kirgisistan folgten jeweils im Jahresabstand. Zuletzt warfen der Euromaidan und – jenseits des postsowjetischen Raums – der Arabische Frühling die Frage auf: Unter welchen Umständen ist ein Umsturz wahrscheinlich? Und wann ist Kontinuität zu erwarten?

Im Folgenden argumentiere ich anhand Aserbaidschans, dass Antworten stets im jeweiligen Landeskontext zu finden sind. Grundsätzlich ist die Stabilität der Herrschaftssysteme nicht von Tiefe, denn im Zeichen der oben genannten Krisensymptome mangelt es ihnen an Legitimität und Unterstützung. Zu bestimmten historischen Konstellationen tritt dabei ein „Critical Juncture“ ein. Zu diesen „kritischen Zeitpunkten“ ist der Grat zwischen Umsturz und Kontinuität besonders schmal.

Aserbaidschan zeichnet sich durch anhaltend sehr hohe Korruptionsraten aus. Im „Corruption Perceptions Index“ von „Transparency International“ lag das Land im Jahr 2015 auf Rang 119 von insgesamt 168 gelisteten Ländern.[ii] Die Umverteilung der hohen Ressourceneinkünfte aus dem Export von Öl und Gas obliegt der herrschenden Elite, die einen Großteil davon für den privaten Konsum abschöpft. Bürger- und Freiheitsrechte werden derweil systematisch verletzt. „Freedom House“ stuft Aserbaidschan als „not free“ ein.[iii] In diesem Klima fanden zuletzt am 1. November 2015 Parlamentswahlen statt. Als überragender Sieger ging die Regierungspartei „Neues Aserbaidschan“ hervor. Die Wahlen wurden weder als frei noch als fair eingestuft – doch nennenswerte Proteste im Land blieben aus. Vielmehr erhält Präsident Ilham Aliyev in Teilen der Bevölkerung vergleichsweise hohe Zustimmungswerte. In anderen Teilen dominieren Passivität, Fatalismus und ein Rückzug ins Private. Durch welche Faktoren wird die Haltung der Bevölkerung beeinflusst?

Politische Passivität ist keineswegs ein vorbestimmtes Wesensmerkmal der aserbaidschanischen Bevölkerung. So gingen in der durch den aufbrechenden Berg-Karabach Krieg geprägten Spätphase der Sowjetunion in Baku Hundertausende auf die Straße. Sie wurden getrieben durch einen emotionalen Nationalismus, der sich mit Forderungen nach Demokratie und Selbstbestimmung vermengte. Die Erinnerung an die „Aserbaidschanische Demokratische Republik“ (1918-20) und ihr weites Spektrum an demokratische Freiheiten nahm damals einen zentralen Stellenwert ein.

Eigentlich zeichnet sich Aserbaidschan durch einen vergleichsweise hohen gesellschaftlichen Emanzipationsgrad aus. Dies geht auf eine historisch-kulturelle Besonderheit des Landes zurück. Die im 19. Jahrhundert durch die industrielle Erdölförderung angestoßenen sozioökonomischen Umbruchprozesse wirkten tief in die Gesellschaft als Ganzes. Unter dem Einfluss einer westlich orientierten Bildungselite prägte sich früh ein allgemeines Zugehörigkeitsgefühl zu Europa heraus. Dieses durch die geographische Randlage eher noch verstärkte Selbstverständnis ist bis heute ein wesentlicher Bestandteil der aserbaidschanischen Identität. Doch darf nicht übersehen werden, dass die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse bis heute unvollständig blieben. Im Endeffekt besteht zwar ein Konsens über die Zugehörigkeit zur europäischen Wertegemeinschaft.[iv] Tatsächlich sind in der breiten Bevölkerung aber keine genauen Vorstellungen über bürgerliche Rechte, Pflichten und demokratische Verfahren vorhanden. In dem Gesamtkontext bleibt politische Initiative vorrangig auf eine kleine, in Baku zentrierte, westlich ausgerichtete Bildungselite beschränkt. Diese war es auch, die in der Vergangenheit zivilgesellschaftlich und oppositionell eine starke Rolle spielte.

Ein Critical Juncture wurde dabei im Jahr 2005 erreicht. Die Revolutionen im postsowjetischen Raum – allen voran jene im Nachbarland Georgien – hatten die Hoffnung genährt, in Aserbaidschan wäre vergleichbares möglich. Fälschungsvorwürfe bei den Parlamentswahlen brachten damals mindestens 10.000 Demonstranten auf die Straße. Das Regime antwortete unmittelbar, kompromisslos und unmissverständlich mittels eines massiven Polizeieinsatzes und blanker Gewalt, Treibjagd inklusive. Die Geschehnisse von 2005 markierten in dreifacher Hinsicht eine Zäsur. Erstens sind öffentliche Kundgebungen seither zur Seltenheit geworden. Dabei werden selbst kleine Veranstaltungen von der Polizei frühzeitig aufgelöst und Teilnehmer verhaftet. Zweitens breitete sich in der Opposition nach der zweiten Niederschlagung einer Großdemonstration seit 2003 zunehmend Apathie aus. Drittens führten die Geschehnisse der Öffentlichkeit vor, welche Risiken mit der Artikulation offener Kritik an der Regierung verbunden sind. Das Regime hatte vorgeführt, dass es für den Machterhalt keine moralischen Grenzen kennt. So überwiegt heute selbst in den Kreisen der Unzufriedenen und Oppositionsanhänger ein Gefühl der Angst. Der Rückzug ins Private wird dabei nicht allein durch die Furcht vor körperlicher Gewalt oder Gefängnisstrafen hervorgerufen, sondern gerade auch dadurch, dass ein unbeteiligter Verwandter den Arbeitsplatz oder die Studienzulassung verlieren könnte.

In diesem Gesamtkontext kommt der herrschenden Elite der Faktor „Öl- und Gasreichtum“ maßgeblich zu Gute. Mittels hoher Ressourceneinkünfte waren der Sicherheitsapparat bereits in den Jahren vor 2005 massiv ausgebaut und die Gehälter der Polizeikräfte kurz vor den Wahlen noch einmal erhöht worden. Auch international ist Aserbaidschan ein wichtiger Handelspartner. Angesichts dessen halten sich westliche Regierungen damals wie heute mit offener Kritik eher zurück – ganz anders als im Fall der Wahlfälschungen in Georgien im Jahr 2003. Derweil dominiert und kontrolliert die Regierung die nationale Medienlandschaft. Im Ergebnis wird die öffentliche Meinung gezielt gelenkt. Skandale und Missstände werden heruntergespielt oder ganz verschwiegen, Erfolge propagiert. So betont die Regierung gegenüber der Bevölkerung auch

das Ansehen, das der Präsident weltweit erfährt, auf systematische Weise. Hierdurch wird externe Legitimität suggeriert und nach innen transferiert. Hinzukommen bedachte Reformschritte in Richtung Demokratie und Transparenz in ausgewählten, isolierten Bereichen, während sich am grundsätzlichen Problem nichts ändert, bzw. das Land immer autoritärer wird. Dieser Strategie übergeordnet propagiert die Regierung das „Primat der Stabilität und Entwicklung“.[v] Diese Ersatzideologie wird im postsowjetischen Raum häufig bedient. Sie besagt, dass es zunächst gelte, politische Stabilität zu garantieren, um auf dieser Grundlage wirtschaftlichen Fortschritt einzuleiten, um so langfristig Wohlstand für alle zu generieren. Demokratisierung sei demgegenüber nachrangig und vor allem als Fernziel zu verstehen. In großen Teilen der aserbaidschanischen Bevölkerung stößt diese Argumentation durchaus auf Verständnis. Krieg und Staatsversagen in den frühen Neunziger Jahren wirken bis heute traumatisch nach. Gleichzeitig wird eine von den natürlichen Ressourcen getriebene moderate Wohlstandsentwicklung in Bezug zu Armut und Mangelwirtschaft in der Vergangenheit gesetzt. Derweil findet ein öffentlicher Diskurs über tatsächliche Probleme in diesen und anderen Bereichen nicht statt, sieht man vom Berg-Karabach Konflikt einmal ab. Doch gerade letzterer wird durch das Regime instrumentalisiert, um die Bevölkerung abzulenken und zu mobilisieren. In einer unabhängigen Umfrage vom Februar 2009 nannten 66,7 % der Befragten den andauernden Konflikt als eine der drei besorgniserregendsten Hauptprobleme des Landes, während lediglich 30,9% die Korruption hinzuzählten.[vi]

Der Fall Aserbaidschans zeigt: der gesellschaftliche Emanzipationsgrad, die Stärke der Zivilgesellschaft und Opposition, der Repressionsgrad, die relative Wohlstandsentwicklung, das internationale Standing und die politische Agenda/Programmatik der Regierung sind Kontextfaktoren, welche die Haltung der Bevölkerung beeinflussen und sich damit auf die Wahrscheinlichkeit eines Umbruchs vs. Kontinuität auswirken. In Aserbaidschan trat in dieser Hinsicht im Jahr 2005 ein „Critical Juncture“ ein. Mittels massiver Repression gelang es der Regierung jedoch, die Kontrolle zu wahren.

Aber wie sieht es in dieser Hinsicht in Zukunft aus? Das Land hat den Peak der Ölförderung überschritten und der Ölpreisverfall hat eine massive Wirtschaftskrise ausgelöst. Allerdings fehlen heute eine handlungsfähige Opposition und Zivilgesellschaft im Land. Ein Umsturz wäre theoretisch aus den Reihen der herrschenden Elite selbst denkbar. Das oberste Herrschaftssegment des Landes besteht aus dem Präsidenten Ilham Aliyev, seiner Familie und sieben politisch und/oder ökonomisch einflussreichen Personen- und Familiennetzwerke. Diese gehen zum Teil noch auf die Herrschaft Heydar Aliyevs zu Sowjetzeiten zurück. Die Straffung dieses informellen Herrschaftssystem durch Ilham Aliyev, die Erhöhung der Eskalationsstufe im Berg-Karabach Konflikt und die gesteigerte Reformrhetorik zeigen: Die Elite ist nervös geworden, denn ihrer Herrschaft fehlt es an grundlegender Unterstützung und Legitimität. Gleichzeitig bleibt sie vorerst geeint im gemeinsamen Streben, die Macht zu erhalten und einen Großteil der nach wie vor signifikanten Ressourceneinkünfte auf Kosten des Allgemeinwohls für den privaten Konsum abzuschöpfen.

[i] Eine Ausnahme bilden die Baltischen Staaten.

[ii] https://www.transparency.org/country/#AZE (Letzter Aufruf 10.05.16)

[iii] https://freedomhouse.org/country/azerbaijan (Letzter Aufruf 10.05.16)

[iv] Das Land ist Mitglied des Europarates und Teil der Europäischen Nachbarschaftspolitik.

[v] Babayev, Aser (2009): Politische Transformation im postsowjetischen Aserbaidschan: eine historisch-institutionalistische Analyse, Mannheim, S. 160. Online abrufbar unter: http://ub-madoc.bib.uni-mannheim.de/2925/1/Dissertation_Babajew.pdf (Letzter Aufruf 10.05.16)

[vi] Musabayov, Rasim / Shulman, Rakhmil (2009): Azerbaijan in 2008. Sociological monitoring, Baku: AZSEA.

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