Loving Activism Again? Zivilgesellschaft und gesellschaftlicher Wandel in Zentral- und Osteuropa

Loving Activism Again? Zivilgesellschaft und gesellschaftlicher Wandel in Zentral- und Osteuropa

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Neue demokratische Protestkultur oder gesellschaftliche Spaltung? Wie lassen sich aktuelle Entwicklungen, etwa zunehmender Protest, eine ansteigende gesellschaftliche Polarisierung und mangelnde Solidarität, vor allem mit Minderheiten, in der Region einordnen? In einer ungewöhnlichen Diskussionsrunde am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien in Kooperation mit dem LET’S CEE Film Festival sprachen Filmschaffende mit WissenschaftlerInnen und Studierenden zum Thema „Aktivismus und Zivilgesellschaft in Zentral- und Osteuropa“.

Wissenschaft trifft Kunst

Dass Aktivismus und Zivilgesellschaft von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet werden kann, zeigte die Zusammensetzung des Podiums: Neben der Universitätsprofessorin Tina Olteanu (Institut für Politikwissenschaft) sprachen die Filmschaffenden Askold Kurov, Apolena Rychlíková und Bartosz Staszewski über ihre Sicht auf das Thema. Askold Kurov präsentierte beim LET’S CEE Film Festival seine vielbeachtete Dokumentation „The Trial“, welche die Geschichte des bekannten ukrainischen Regisseurs Oleg Sentsov erzählt. Dieser wurde im Mai 2014 aufgrund des Vorwurfs der Planung terroristischer Handlungen auf der Krim verhaftet und 2015 von einem russischen Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die Dokumentation „The Limits of Work” von Apolena Rychlíková ist eine Undercover-Recherche von Journalistinnen zu gering qualifizierten Jobs in Tschechien. Der Film zeigt die Arbeitsbedingungen in Betrieben wie einer Geflügelfarm, einer Wäscherei oder einer Müllsortierungsanlage, und verdeutlicht damit, laut Rychlíková, die „dunkle Seite des Kapitalismus“. Die Dokumentation „Article 18“ von Bartosz Staszewski widmet sich der schwierigen Situation der LGBT-Community in Polen und deren Kampf für die rechtliche Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe.

Von rechts nach links: Apolena Rychlíková, Bartosz Staszewski, Askold Kurov, Tina Olteanu und Tobias Spöri (Moderator) ©Elisabeth Mandl/LET’S CEE Film Festival

Eine neue Welle des Protests

Die eingangs präsentierte These von Tina Olteanu, dass Zentral- und Osteuropa in den letzten Jahren ein Erstarken an zivilgesellschaftlichen Protest erlebt hat, fand auf dem Podium generelle Zustimmung. Ein Indiz dafür ist die Häufigkeit an größeren Protestkundgebungen in der Region, denn die Liste ist lang: die andauernden Proteste in der Slowakei nach dem Mord an dem Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten, die Demonstrationen in Polen gegen Maßnahmen der PiS-Regierung, insbesondere gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetztes („black protest“), Orbán-kritische Kundgebungen nach dessen klaren Wahlsiegs Anfang April in Ungarn oder Proteste gegen Korruption und Machtmissbrauch 2017 in Rumänien sind nur einige Beispiele.

Neben diesen meist landesweiten Protesten, gibt es auch lokale Formen von Aktivismus, die sich meist unter dem öffentlichen Radar befinden. Die Spaßpartei „Ungarische Partei des zweischwänzigen Hundes“ (Magyar Kétfarkú Kutya Párt) hat es sich beispielsweise zur Aufgabe gemacht, politische Akteure in Ungarn zu parodieren. So erregte ihre Plakatkampagne mit regierungskritischen Sprüchen 2015 großes mediales Aufsehen. Eine ähnliche Spaßkandidatur gab es beispielsweise auch im serbischen Präsidentschaftswahlkampf 2017, bei der Luka Maksimović als Satirefigur Ljubiša Preletačević „Beli” den Wahlkampf aufmischte.

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Zunehmende Polarisierung in den Gesellschaften

Gleichzeitig lässt sich auch eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaften beobachten, die sich auch im Erstarken aktivistischer nationalistischer und rechtsradikaler Gruppen widerspiegelt. So sind das polnische Nationalradikale Lager (ONR) oder die (Neue) Ungarische Garde beispielsweise im öffentlichen Raum und in den Medien der Region zunehmend präsent. Auch der Gewinner des Dokumentarfilmwettbewerbs des LET’S CEE Film Festival 2018 (When the War Comes) widmet sich diesem Thema und dokumentiert eine rechte paramilitärische Gruppe in der Slowakei. Der Anstieg an Protest in Zentral- und Osteuropa ist in Teilen somit auch auf das Aufkommen rechter, national-konservativer Gruppierungen zurückzuführen.

Gemischte Transformationsbilanz

Die Panel-Teilnehmenden zogen jedenfalls eine gemischte Bilanz der Entwicklung der Region seit den Umbrüchen 1989. Die steigende Unzufriedenheit mit politischen Eliten, die fehlende Solidarität innerhalb der Länder und demokratiepolitisch bedenkliche Entwicklungen wurden dabei besonders hervorgehoben. So sorgte beispielsweise der Film „The Limits of Work“ in Tschechien einerseits für Verwunderung, dass es derartige Arbeitsbedingungen im Land gibt. Anderseits ist die Solidarität mit Menschen in solchen Anstellungsverhältnissen gering. Ihre Situation wird weder in der Öffentlichkeit oder von der neoliberal orientierten Regierung thematisiert. Zudem haben ArbeiterInnen, die täglich bis zu zwölf Stunden im Schichtbetrieb arbeiten, kaum eine Lobby oder Ressourcen sich politisch zu beteiligen.

Von mangelnder Solidarität, aber auch Diskriminierung und Unwissen in der Bevölkerung, berichtete auch Bartosz Staszewski. Insbesondere seit der Regierungsübernahme der rechtskonservativen PiS-Regierung in Polen hat sich auch der Ton gegen sexuelle Minderheiten in der Öffentlichkeit verschärft. Neben den von der Europäischen Union mehrfach angeprangerten Reformen, beispielsweise des Justizsystems oder der Medienlandschaft, fiel die Regierung durch homophobe Äußerungen auf.

Die Diskussion verdeutlichte aber auch den großen Unterschied zwischen Ländern wie Polen und Tschechien und der Situation in Russland: die beiden Visegrád-Länder haben zwar in den letzten Jahren in unterschiedlichem Maße durch demokratiepolitisch bedenkliche Entwicklungen auf sich aufmerksam gemacht, gelten aber weiterhin als Demokratien. Anders verhält es sich mit Russland, das mittlerweile von den meisten WissenschaftlerInnen als konsolidierte Autokratie beschrieben wird. Der Film von Askold Kurov veranschaulicht die Probleme in der russischen Rechtstaatlichkeit, in dem er den Prozess gegen Sentsov als politisch motiviert präsentiert. Auf russischen Festivals wurde der kritische Film kaum gespielt, da viele Filmfestivals in der Erwartung von Sanktionen kritische Filme selten bis gar nicht im Programm führen. Generell stünden kritische Filmschaffende unter besonderer Beobachtung der russischen Behörden. So wurde zum Beispiel erst kürzlich der Hausarrest des bekannten Regisseurs Kirill Serebrennikov verlängert.

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Die emanzipatorische Macht von Filmen

Alle drei Filmschaffenden berichteten abschließend von gemischten Reaktionen auf ihre Filme. Diese reichten von Ablehnung und Hass-Emails bis zu langen Diskussionen bei Vorführungen und einem gestiegenen Bewusstsein für die gezeigten Themen. Gerade das Aufzeigen von Problemen in verschiedenen gesellschaftspolitischen Bereichen macht unabhängige Filmproduktionen zu einem Forum für Diskussionen. Derartige Filme beleuchten aktuelle Themen aus anderen Blickwinkeln oder verschaffen generelle Aufmerksamkeit für weniger sichtbare Probleme. Insofern verstanden alle Gäste die Kamera als „Waffe“, mit der sie, wie viele andere Kultur- und Filmschaffende in der Region, auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen und Themen auf die Agenda setzen, die in oftmals staatlich mitfinanzierten Medien kaum aufgegriffen werden. Die Arbeit von unabhängigen Filmschaffenden leistet damit einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Bewusstseinsbildung, zur demokratischen Agenda und letztlich zu gesellschaftlichem Widerstand gegen korrupte und zunehmend autokratische Eliten.

Die Veranstaltung war die dritte Kooperation zwischen dem Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und dem LET’S CEE Film Festival. In vorangegangen Diskussionsrunden waren der Konflikt in der Ukraine und die Situation von Geflüchteten in Zentral- und Osteuropa Thema der Veranstaltungsreihe.

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