Kirchenpluralismus und Demokratie in der Ukraine

Kirchenpluralismus und Demokratie in der Ukraine

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Ist es von Belang für die Demokratie in der Ukraine, dass die ukrainische Staatssicherheit ab Oktober 2022 Durchsuchungen von Klöstern der Ukrainischen Orthodoxen Kirche vorgenommen hat? Was bedeutet in diesem Zusammenhang die Ausbürgerung von 13 Priestern dieser Kirche aus der Ukraine am Jahresende? Wie könnten sich diese Schritte auf den Beitrittsprozess des Landes in die EU auswirken?

In der Ukraine gibt es mehrere orthodoxe Kirchen, neben der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU), die Anfang 2019 selbständig, autokephal, geworden ist, existieren weitere sechs orthodoxe Kirchen. Die größte davon ist jene, gegen die der ukrainische Staat seit dem Herbst vergangenen Jahres vorgeht, die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK). Sie hatte sich im Mai von ihrer bisherigen Unterstellung unter die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) gelöst. Das hatte natürlich mit dem Krieg Russlands und der Haltung des Oberhauptes der ROK, Patriarch Kirill, zu tun, der die Entscheidungen Präsident Putins öffentlich unterstützt hat.

Wie groß der Einfluss der UOK in der ukrainischen Bevölkerung ist, dazu gibt es widersprüchliche Angaben. In einem Bericht von RFE/RL vom 22.11.22 wird geschätzt, dass sich 34 % der Befragten in einer Umfrage im Jahr 2020 als Anhänger der OKU und 14 % als Anhänger der UOK identifiziert haben[i]. Der Theologe und Osteuropaexperte Thomas Bremer hingegen hat in einem kürzlich veröffentlichten Bericht[ii] festgestellt, dass die UOK eine deutlich größte Zahl von Kirchengemeinden und Priestern hat als die autokephale OKU, 12 Tsd. Gemeinden gegen 7 Tsd. und 10,5 Tsd. Priester gegen 4,5 Tsd. So die offizielle Statistik von Anfang 2021. Berücksichtigen muss man allerdings auch, dass sich 36 % der Bevölkerung der Ukraine als „einfach orthodox“ definieren (also ohne sich einer der verschiedenen Kirchen zuzuordnen). Aber selbst, wenn nur eine Minderheit der ukrainischen Bevölkerung von den politischen Maßnahmen gegen ihre Kirche betroffen wäre, nur Menschen im Zentrum, Osten und Süden des Landes träfe, hätten sie doch Einfluss auf die Demokratie in der Ukraine.

Hausdurchsuchung und Gebet für russischen Sieg

Zunächst noch einmal ein paar Fakten: Im Oktober hatte der ukrainische Geheimdienst SBU eine Hausdurchsuchung bei einem hohen Priester der UOC, Metropolit Ionafan von Tultschyn, durchgeführt. Ihm wurde vorgeworfen, dass er die Unabhängigkeit der OKU auf seiner persönlichen Website geleugnet und die Ukraine als „Kleinrussland“ bezeichnet habe. Dieser Artikel sei über soziale Medien verbreitet worden[iii].

Am 22. November durchsuchte der SBU das Kiewer Höhlenkloster, in dem die UOK ihren Hauptsitz hat. Begründet wurde das mit der Vermutung, dass der russische Geheimdienst die UOK nutze, um sie zu einem Zentrum der „russischen Welt“ auszubauen. Man wolle damit Terroranschlägen, Geiselnahmen und Sabotageakten zuvorkommen. Konkreter Grund war allerdings ein Gottesdienst, auf dem ein russisches Lied gesungen wurde, in welchem die Zeile vorkommt „Das Läuten schwebt über Russland, Mütterchen Rus erwacht“. Der Vorsteher des Höhlenklosters, Metropolit Pawel bestritt, dass in seinem Verantwortungsbereich für den Sieg Russlands gebetet worden sei, suspendierte jedoch den Priester, der den betreffenden Gottesdienst geleitet hat[iv]. Im zeitlichen Zusammenhang zur Operation des SBU im Höhlenkloster wurden weitere Klöster der UOK durchsucht.

Am 4.12. meldete „Die Zeit“, dass Präsident Selenskij das Parlament aufgefordert habe, die Unabhängigkeit der Ukraine auch auf religiösem Gebiet zu verteidigen. In einem Gesetz solle religiösen Organisationen die Verbindung zur Russischen Föderation verbieten. Am 1.12. hatte das der Nationale Sicherheitsrat beschlossen[v]. In einem Gesetzesprojekt des Parlaments der Ukraine wird nun formuliert, dass der Begriff „orthodox“ nur noch jenen Kirchen zugestanden wird, die sich der Oberleitung der OKU unterstellen, meldete die Zeitung „Strana“ am 10.12. Es ist bisher nicht beschlossen worden. Die Juristen des Parlaments meldeten Bedenken gegen seine Verfassungsgemäßheit an. Sie weisen auf den Artikel 35 der Verfassung[vi] hin und warnen vor einer Zunahme religiöser Spannungen in der Bevölkerung.

Weiterhin wurde der Pachtvertrag mit der UOK für den oberen Teil des Kiewer Höhlenklosters, in dem auch die Hauptkirche der betreffenden Kirche (die Mariä-Entschlafens-Kathedrale) lag, zum Jahresende 2022 gekündigt. Ende Dezember, so meldete die FAZ am 8. Januar, seien 13 Priester und Hierarchen der UOK ihrer ukrainischen Staatsbürgerschaft verlustig gegangen[vii].

Lösung des Konflikts aktuell möglich?

Thomas Bremer schließt seinen Artikel mit der Feststellung, dass der Konflikt zwischen den beiden größten orthodoxen Kirchen der Ukraine nicht über die Marginalisierung einer von beiden Kirchen erreicht werden könne. Koexistenz und Kooperation wären nötig, aber er ist skeptisch, ob diese unter gegenwärtigen Bedingungen erreicht werden können.

Der Konflikt des Staates mit der UOK hat aber noch eine andere als die kirchliche Dimension: sie wirkt sich auf das Verhältnis der Bevölkerung auf den Staat aus. Zwar wird in einer der jüngsten Umfragen festgestellt, dass 54 % der Befragten ein Verbot der UOK befürworten würden[viii]. Aber in der Demokratie gibt es Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die nicht durch Mehrheitsentscheid aufgehoben werden können. Eines dieser Rechte ist die Glaubens- und Meinungsfreiheit. Die aber wäre durch ein Verbot der größten orthodoxen Kirche des Landes gefährdet. Und in dieselbe problematische Richtung gehen die jüngsten politischen Maßnahmen gegen die russische Kultur in der Ukraine, die Streichung der Werke von Puschkin und Bulgakow aus den Lehrplänen, den Abbau von Denkmälern für die betreffenden russischen bzw. sowjetischen Schriftsteller.

Der politische Konflikt mit der UOK hat zusätzlich einen machtpolitischen Hintergrund. Schon der vorherige Präsident, Poroschenko, hatte den Kirchenkampf instrumentalisiert als er eine unabhängige Kirche, die OKU, gründete. Präsident Selenskij hat deshalb nicht völlig auf jene Staatskirche gesetzt, weil er Poroschenko, der in der OKU viele Anhänger hat, nicht stärken will. Jedoch setzt er auch nicht auf die UOK, sondern versucht sie in der beschriebenen Weise zu schwächen. Bloßer staatlicher Zwang wird die langjährig gewachsenen kulturellen Orientierungen aber nicht beseitigen.

Auswirkungen auf EU-Annäherung der Ukraine

Im Kriegszustand scheinen Maßnahmen zur Stärkung der Einheit des Denkens und Handelns aller Ukrainer noch begründbar zu sein. Das ändert aber nichts daran, dass der beschriebene politische Druck auf die große UOK die Bürgerrechte der Ukrainer und den demokratischen Pluralismus ihrer Gesellschaft unzulässig einschränkt. Insofern mindern die bezeichneten Schritte gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche und die russische Kultur die Qualität der Demokratie in der Ukraine und können damit ihren EU-Kandidatenstatus ernsthaft gefährden.


[i] Siehe den Beitrag in der FAZ vom 30.12.22, link: Mehrheit der Ukrainer will Verbot von „Moskauer“ Orthodoxer Kirche (faz.net) (Zuletzt aufgerufen am 10.1.23).

[ii] Vgl. dazu „Die Zeit online“: https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-12/ukraine-ueberblick-abzug-saporischschja-selenskyj-einfluss-kirche-joe-biden-wladimir-putin; und den Bericht in der ukrainischen Online-Zeitung „Strana“ vom 3.12. https://strana.best/news/417311-chto-budet-s-upts-v-ukraine-i-kak-tserkov-otvetit-na-dejstvija-vlastej-v-otnoshenii-nee.html (aufgerufen beide zuletzt am 10.1.23).  

[iii] Der relevante Wortlaut dieses Artikels lautet (in der Übersetzung): „Artikel 35. Jeder hat das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit. […] Die Kirche und die Religionsgemeinschaften sind in der Ukraine vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt. Keine Religion darf vom Staat als verbindlich anerkannt werden“.

[vi] So die FAZ in ihrem Tagesbricht über die aktuelle Lage in der Ukraine am 8.1.23.

[v] Siehe dazu den Nachrichtendienst NÖK vom 17.11.22, link: Ukraine: Metropolit der UOK wird „Schüren von religiösem Hass“ vorgeworfen (noek.info) (aufgerufen am 10.01.23).

[vi] Vgl. den Beitrag des Nachrichtendienstes NÖK vom 2.12.22, Ukraine: Geheimdienst durchsucht Klöster der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, link: Ukraine: Geheimdienst durchsucht Klöster der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (noek.info) (aufgerufen am 10.1.23).

[vii] Siehe den Bericht von RFE/RL vom 22.11.2022, Ukraine’s Security Service Conducts ‘Counterintelligence’ Raid At Historic Kyiv Monastery.

[viii] Siehe Thomas Bremer: Which orthodox church in Ukraine is the largest? Posted in: Public Orthodoxy, at Nov. 9, 2022, link: Which Orthodox Church in Ukraine is the Largest? – Public Orthodoxy (aufgerufen am 10.01.23)

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