100 Tage PiS-Regierung in Polen: Ein ideengeschichtlicher Exkurs
Welche Ideen stehen hinter dem Vorgehen der neuen polnischen Regierung? Seit kaum mehr als 100 Tagen amtiert Premierministerin Beata Szydło und permanent wird diese Frage gestellt. Ein Grund dafür ist, dass die Regierung anstelle der versprochenen sozialpolitischen Maßnahmen eine Strategie verfolgt hat, die ein ihr nahestehender Publizist als „Säubern des Vorgeländes“[i] bezeichnet hat: Vorerst beschäftige sich Prawo i Sprawiedliwość (PiS; auf Deutsch: Recht und Gerechtigkeit) „nicht mit inhaltlichen Fragen und initiier[e] keine Reformprojekte […]. Das Ziel der Regierung während der ersten Monate [sei], sich Bedingungen zu schaffen, die das Treffen von Entscheidungen erleichtern.“ Dabei ist die Regierung nicht auf Koalitionspartner angewiesen, PiS verfügt über eine absolute Mehrheit in beiden Parlamentskammern und stellt mit Andrzej Duda den Staatspräsidenten. Welches „Vorgelände“ ist also das Problem? Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Antwort auf diese Frage ideengeschichtliche Anhaltspunkte der politischen Weltsicht von PiS, ihrer „Reparaturpläne“ für den polnischen Staat sowie des damit verbundenen Unbehagens mit der liberalen Demokratie ans Licht bringt.
Im Wahlkampf und in ihrer Antrittsrede kündigte die Premierministerin für die ersten 100 Tage u.a. ein Kindergeld, kostenlose Medikamente für Rentner_innen, die Herabsetzung des Renteneintrittsalters sowie des Steuerfreibetrags an.[ii] Realisiert wurde davon nur das Kindergeld-Programm „500 Plus“[iii]. Indes wurden in teils weniger als 24 Stunden dauernden parlamentarischen Verfahren mehrere Gesetze verabschiedet, die unter anderem die Arbeitsweise des Verfassungstribunals grundlegend verändern, die Besetzung leitender Posten im öffentlichen Dienst unmittelbar von der Regierungsspitze abhängig machen und infolge des so genannten „kleinen Mediengesetzes“ die Programmchefs der staatlichen Rundfunkanstalten in Zukunft direkt dem Schatzminister unterstellen, anstatt wie bisher dem Landesrundfunk- und Fernsehrat (KRRiT). An diesen Maßnahmen entzündeten sich die Proteste des so genannten „Komitees zur Verteidigung der Demokratie“ (KOD) sowie die Prüfungen seitens der EU-Kommission und der Venedig-Kommission des Europarats. Laut PiS geht es um eine „Reparatur“ der im Zuge der post-kommunistischen Transformation entstandenen Republik – auch mithilfe einer neuen Verfassung.[iv]
Dieses Anliegen hat Jarosław Kaczyński, der als Parteigründer und Fraktionsvorsitzender personell, strategisch und ideologisch die Richtung von Regierung und Staatspräsidenten vorgibt, bereits Anfang der 1990er Jahre so begründet wie heute: Die „Steuerungsfähigkeit“ (sterowalność) des Staates müsse gegen den Widerstand gut vernetzter mächtiger Interessen zurückerobert werden.[v] Dieses Argument kehrte im Zuge der skizzierten Reformen und bei (fast) allen Rechtfertigungs- und Verteidigungsmanövern der PiS wieder. Jüngst gab Präsident Duda im Wochenmagazin „Wprost“ einflussreichen Interessensgruppen die Schuld an dem „Versuch, den guten Wandel [der fortwährend wiederholte Wahlkampfslogan der PiS; Anm. d. Autors] zu blockieren“[vi].
Diese Gruppen, bzw. ihr vorgestellter Einfluss sind mit dem zu säubernden „Vorgelände“ gemeint. Es handelt sich dabei um eine der typischen Argumentationsfiguren rechtspopulistischer Rhetorik,[vii] deren Übergang zu Verschwörungstheorien fließend ist.[viii] Darauf wurde in den Medien zuletzt ebenso häufig hingewiesen, wie auf vermeintliche biografische Traumata und psychologische „Ticks“ bei Jarosław Kaczyński.[ix] Aus politikwissenschaftlicher Sicht erscheint es ergiebiger, nach ideengeschichtlichen Anhaltspunkten der Konzepte und frames zu suchen, die für die entsprechende Wahrnehmung der Wirklichkeit sorgen und ihr Sinn verleihen – unabhängig davon, welches Ausmaß die Probleme wirklich haben und wie sie dann politisch instrumentalisiert werden. In dieser Hinsicht hat der Politologe Krzysztof Mazur auf die prägende Wirkung der politischen Theorie Stanisław Ehrlichs (1907-1997), des Doktorvaters und akademischen Mentors von Jarosław Kaczyński, hingewiesen.[x]
Das Wirken des seinerzeit auch über die Volksrepublik Polen hinaus in Fachkreisen bekannten Professors für Staats- und Rechtstheorie in Warschau ist erstaunlicherweise unter systematischen sowie werk- und wirkungsgeschichtlichen Gesichtspunkten kaum erforscht.[xi] Wie ergiebig eine entsprechende kritische Auseinandersetzung angesichts des aktuellen Vorgehens der PiS sein könnte, legt ein Blick in das 1966 ins Deutsche übersetze Buch „Die Macht der Minderheit“[xii] nahe. Ehrlich untersucht darin, welche Rolle „Einflussgruppen“ (grupy nacisku) in den liberalen Demokratien des kapitalistischen Westens spielen.
Dieses (auch in der PiS-Rhetorik immer wieder so auftauchende) Konzept grenzt Ehrlich gegen die von der Politologie noch immer verwendeten Kategorien der „Interessengruppen“, „pressure groups“, der „Lobby“ oder der „organisierten Interessen“ ab.[xiii] Funktional entscheidend sei, dass Gruppen sich mit dem Ziel formieren, „Entscheidungen der Staatsorgane zu erwirken, die für die von ihnen repräsentierten Interessen günstig sind.“[xiv] Dies erweise sich als strukturelle Pathologie der „politischen Struktur des Kapitalismus“, die Ehrlich in kritischer Absicht analysiert. Anhand ausgewählter Fallbeispiele vor allem aus dem US-amerikanischen Kontext entwickelt er seine zentrale Hypothese: Das Verhältnis der souveränen Nation zu ihren gewählten Vertretern habe sich in der liberalen Demokratie zu einer „Bürokratie der partikulären Verbände“[xv] entwickelt. Einflussgruppen ohne demokratische Legitimation bestimmten die kollektiv verbindlichen Entscheidungen der Staatsorgane. Schuld seien gleichermaßen der Kapitalismus und die liberale, auf dem Prinzip der Repräsentation basierende Konzeption der Demokratie.[xvi]
Die hier angesprochene Problematik ist für die post-kommunistischen Demokratien hochaktuell – demokratietheoretisch wie empirisch.[xvii] Trotz aller ideengeschichtlich und systematisch angebrachten Vorbehalte gegenüber Ehrlichs Zuspitzung und dem fraglichen Zusammenhang zur Ideologie der PiS muss man dies gerade für die heutige polnische Gesellschaft konstatieren. In ihrer umfassenden Studie hat die Soziologin Maria Jarosz 2004 das Versagen (bzw. ein bewusstes Vermeiden) wirtschaftspolitischer Steuerung der Transformation mitverantwortlich gemacht für verbreiteten politisch-ökonomischen Klientelismus. Als Folge sah sie die Herausbildung „eine[s] Staat[es] der institutionalisierten Verantwortungslosigkeit und der sanktionierten Rechtlosigkeit […], in dem das Privatinteresse immer gegen das Interesse der Gesellschaft obsiegt“[xviii]. Ehrlich folgerte in den frühen 1960ern anhand wesentlich weniger drastischen Beobachtungsmaterials, dass institutionelle Checks and Balances nicht funktionieren. Er sah darin nur weitere Andockstellen für Einflussgruppen.[xix] Auch gerichtliche Verhandlungen und vor allem die Verfassungsgerichtsbarkeit erschienen ihm als der Macht von Einflussgruppen unterworfene Institutionen, neutrale Richter_innen eine Fiktion.[xx]
Vor diesem Hintergrund kann man das tiefe Misstrauen der PiS gegenüber dem Verfassungstribunal, den Medien, den Demonstrationen von KOD sowie zeitintensiver Prozeduren parlamentarischer Deliberation als ein tatsächliche Probleme adressierendes Unbehagen an der liberalen Demokratie nachvollziehen, so illiberal die Antwort auch ist. So hat sich PiS zur alleinigen Repräsentantin eines nicht verzerrten, eindeutigen und von ihr integrierten Volkswillens erklärt und entsprechend auf Schlüsselposten in staatlichen Unternehmen, Agenturen, Geheimdiensten, Medien und der Bürokratie eigene Leute platziert. Das zugrundeliegende Paradox hat sie dadurch nicht aufgehoben, sondern nur verlagert und erneut sichtbar gemacht: Worin soll der souveräne, von „Einflussgruppen“ gereinigte, authentisch repräsentierbare Volkswille überhaupt bestehen, wenn nicht wiederum aus potenziell widerstreitenden und auch nicht durch erzwungenen Nationalpatriotismus integrierbaren Vorstellungen des guten Lebens?
Es ist deshalb fraglich, ob die Antwort der PiS-Regierung auf dieses Grundproblem tatsächlich die polnische Republik stärkt und den Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen wird. Allerdings hat PiS als einzige der etablierten politischen Parteien in Polen das window of opportunity erkannt, das sich Meinungsumfragen zufolge im Frühjahr 2015 öffnete: 72 Prozent der Polinnen und Polen waren zu diesem Zeitpunkt der Meinung, dass das politische System Polens tiefgreifender struktureller Korrekturen bedürfe.[xxi] Nur im Januar 1989 – unmittelbar vor den Gesprächen am Runden Tisch – war dieses Bedürfnis ähnlich stark. An diesen extrem hohen Erwartungen, die PiS seit Jahren selbst geschürt hat, muss sich die Regierung messen lassen.
[i] Wojciech Engelking (2015): PiS oczyszcza przedpole. Z Piotrem Zarembą rozmawia Wojciech Engelking [PiS säubert das Vorgelände. Mit Piotr Zaremba spricht Wojciech Engelking], in: Kultura Liberalna 363 (22.12.2015), abrufbar unter: http://kulturaliberalna.pl/2015/12/22/piotr-zaremba-pis-rozmowa-engelking/ [Letzter Zugriff: 25.02.2016]
[ii] Vgl. das Parlamentsprotokoll: Sejm Rzeczypospolitej Polskiej (2015): Sprawozdanie Stenograficzne z 1. posiedzenia Sejmu Rzeczypospolitej Polskiej w dniu 18 listopada 2015 r. abrufbar unter: http://orka2.sejm.gov.pl/StenoInter8.nsf/0/ACC7A0E8310D1F55C1257F01004844EA/%24File/01_d_ksiazka.pdf [Letzter Zugriff: 19.11.2015], insbes. S. 50.
[iii] Es handelt sich um eine explizit zur Förderung der Geburtenrate konzipierte Pauschale von pro Kind 500 PLN, allerdings erst ab dem zweiten Kind, bei niedrigen Einkommen ab dem ersten Kind. Zur Finanzierung dieser Leistungen, die ab 1. April 2016 ausgezahlt werden sollen, wurde eine Steuer auf Aktiva von Banken und Finanzinstitutionen eingeführt.
[iv] Vgl. Prawo i Sprawiedliwość (2014): Zdrowie – praca – rodzina. Program Prawa i Sprawiedliwości 2014 [Gesundheit – Arbeit – Familie. Programm von Recht und Gerechtigkeit 2014], abrufbar unter: http://pis-wodzislaw.pl/sites/default/files/2014_03_02_program_pis_2014.pdf [Letzter Zugriff: 28.10.2015], S. 48; o.A./Radosław Zak (2016): Die reparierte Republik, in: Profil 4 (25.01.2016), S. 50-55. Für die Ankündigung der neuen Verfassung siehe Sejm Rzeczypospolitej Polskiej (2015): Sprawozdanie (siehe FN 2), S. 60.
[v] Jarosław Kaczyński (2014): Czas na zmiany. Rozmowa z Jarosławem Kaczyńskim [Zeit für Veränderungen. Gespräch mit Jarosław Kaczyński], Warszawa: Editions Spotkania, S. 145.
[vi] Tomasz Wróblewski/Mariusz Staniszewski (2016): Prezydent dla Wprost: Widzę próbę zablokowania dobrych zmian [Der Präsident für Wprost: Ich sehe den Versuch, den guten Wandel zu blockieren], in: Wprost (21.02.2016), S. 12-16, hier S. 16.
[vii] Vgl. Jan-Werner Müller (2013): Anläufe zu einer politischen Theorie des Populismus, in: Transit. Europäische Revue 44, S. 62-71, hier S. 67; Jan Kubik (2012): Illiberal Challenge to Liberal Democracy. The Case of Poland, in: Taiwan Journal of Democracy 2:8, S. 1-11, hier S. 2.
[viii] Vgl. dazu Christian Davies (2016): The conspiracy theorists who have taken over Poland, in: The Guardian (16.02.2016), abrufbar unter: http://www.theguardian.com/world/2016/feb/16/conspiracy-theorists-who-have-taken-over-poland [Letzter Zugriff: 18.02.2016].
[ix] Vgl. Gerhard Gnauck (2016): Wie tickt Polens mächtigster Mann? , in: Die Welt (22.01.2016), abrufbar unter: http://www.welt.de/151322639 [Letzter Zugriff: 29.02.2016].
[x] Vgl. Emilia Swiętochowska (2016): Dlaczego Kaczyński robi to co robi? Odpowiedzią są myśli zapomnianego teoretyka prawa [Warum tut Kaczyński das, was er tut? Die Antwort sind Ideen eines vergessenen Rechtstheoretikers], in: Dziennik Gazeta Prawna (30.01.2016), abrufbar unter: http://wiadomosci.dziennik.pl/opinie/artykuly/511941,mistrz-jaroslaw-kaczynski-stanislaw-ehrlich-pis-prezes-teoria-prawa.html [Letzter Zugriff: 25.02.2016]. Kaczyński wurde 1976 an der Universität Warschau bei Stanisław Ehrlich promoviert.
[xi] Der Katalog der polnischen Nationalbibliothek weist nur eine Handvoll wissenschaftlicher Artikel aus.
[xii] Stanisław Ehrlich (1966): Die Macht der Minderheit. Die Einflußgruppen in der politischen Struktur des Kapitalismus, Wien/Frankfurt/Zürich: Europa Verlag. Der Originaltitel lautet: Grupy nacisku, Warszawa: PWN 1962.
[xiii] Vgl. Ebd., S. 28-31.
[xiv] Ebd., S. 35.
[xv] Ebd., S. 283.
[xvi] Vgl. Ebd., S. 282 f.
[xvii] Vgl. Innes, Abby (2016): Corporate State Capture in Open Societies. The Emergence of Corporate Brokerage Party Systems, in: East European Politics and Societies and Cultures [im Erscheinen], abrufbar unter: http://eprints.lse.ac.uk/65167/ [Letzter Zugriff: 03.03.2016].
[xviii] Maria Jarosz (2005): Macht, Privilegien, Korruption. Die polnische Gesellschaft 15 Jahre nach der Wende, Wiesbaden: Harrassowitz, S. 76.
[xix] Ehrlich (1966), S. 282.
[xx] Vgl. Ebd., S. 213-220 und 274.
[xxi] Vgl. CBOS/Barbara Badora (2015): Postulaty dotyczące zmian systemowych w Polsce [Postulate bezüglich Systemveränderungen], in: Komunikaty z Badań 107 (Juli 2015), abrufbar unter: http://www.cbos.pl/SPISKOM.POL/2015/K_107_15.PDF [Letzter Zugriff: 17.02.2016], S. 1-2. Stichprobe: n=1011 Personen, Methode: Face-to-face Interviews, Zeitraum: 11. – 17. Juni 2015.