Belarus – die „letzte Diktatur“ Europas?
Belarus ist ein Staat mit einer mehr als doppelt so großen Fläche wie Österreich, allerdings ist es mit einer Bevölkerung von rund 9,5 Millionen Menschen vergleichsweise dünn besiedelt. Politisch stabil, ist es wirtschaftlich in einer besseren Lage als sein großer südlicher Nachbar, die Ukraine. Das BIP pro Kopf (in Kaufkraftparität) ist doppelt so hoch wie das der Ukraine. Es gibt gleich zwei Staatssprachen, Weißrussisch und Russisch. Da ca. drei Viertel der Bevölkerung im Alltag Russisch sprechen ist das eine sinnvolle Einrichtung, die durch den Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka, der das Land seit 1994 regiert, 1996 eingeführt worden ist.
Ich bin vor einigen Tagen aus diesem Land von einer Delegationsreise der „Österreichisch-weißrussischen Gesellschaft“ zurückgekommen. Wir hatten ein Seminar über Österreich mit SchülerInnen im Haus der Freundschaft in Minsk und eine Konferenz an der Fakultät für Internationale Beziehungen der Universität. Die weißrussischen Teilnehmer traten uns mit großer Offenheit und freundschaftlich entgegen. Auf der Agenda standen außerdem ein Besuch der Oper „Eugen Onegin“, der alten weißrussischen Stadt Polazk (russ.: Polozk), des Schlosses der Radzivils in Njaswisch, und, nicht zuletzt, die Feier des „Tages des Sieges“ (Дзень Перамогі) am 9. Mai. Kurz vor unserem Besuch war der 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl begangen worden. Obwohl das Kernkraftwerk in der Ukraine stand, war Belarus von den radioaktiven Niederschlägen besonders betroffen. In unserer Delegation war Maria Hetzer, die seit jener Zeit die Ferienaufenthalte für viele Kinder aus den betroffenen Gebieten – es waren insgesamt vier Tausend – in Österreich organisiert. Nachdem Anfang des Jahres die durch die EU gegen Weißrussland verhängten Sanktionen aufgehoben worden sind, steht ein Neustart der Beziehungen ins Haus und unsere Delegation fühlte sich als Teil dessen.
Diese Sätze dienten der Beschreibung des Rahmens meines kurzen Berichtes, der aber weniger ein Reisebericht als eine Reflexion über unsere Maßstäbe der Einschätzung dieses unbekannten Landes sein soll. Ist dieses Land ein normaler Staat in Europa unter anderen oder sein Schmuddelkind, die „letzte Diktatur“? Sind wir eigentlich genügend informiert um zu urteilen?
Weißrussland hat keine alte eigenständige Geschichte, aber es war Teil verschiedener großer historischer Staatengebilde und Verbindungsraum zwischen der Mitte und dem Osten des Kontinents. Es war Teil des Großfürstentums Litauen, dann von Polen-Litauen, des zaristischen Russlands, danach geteilt zwischen Polen und der Sowjetunion, schließlich ab 1945 Teil der Sowjetunion. Das Ende der Sowjetunion wurde von den Präsidenten Russlands, der Ukraine und von Belarus im weißrussischen Nationalpark Belowejschskaja Puschtscha (Белавежская пушча) besiegelt. Das war damals eine Art Putsch gegen Gorbatschow. Nach der am 21. Dezember vollzogenen Auflösung der Sowjetunion entstand das erste Mal jener Staat, der sich 1994 nach einem Sieg Lukaschenkas in der Präsidentschaftswahl in der heutigen Gestalt herausbildete. In der Geschichte zogen Armeen mehrfach ihre Spur der Verwüstung durch das Land, der Große Nordische Krieg im frühen 18. Jahrhundert fand ebenso auf seinem Territorium statt wie der Feldzug Napoleons gegen Russland im 19. Jahrhundert und der besonders verheerende Krieg des Dritten Reichs gegen die Sowjetunion im 20. Jahrhundert, in dessen Verlauf sich die Armeen zweimal durch das Land fraßen und ein Drittel der Bevölkerung von Belarus starb. Belarus ist sicher der Teil der Sowjetunion, der am meisten unter der Gewalt der militärischen Vernichtung gelitten hat. Als wir die Gedenkstätte für eines von Hunderten niedergebrannten weißrussischen Dörfern in Chatyn besuchten, bekamen wir einen bleibenden Eindruck vom Leiden jener Menschen und ihrer Fähigkeit zu trauern.
In Minsk besuchten wir das Museum des Sieges und erlebten am 9. Mai die Feierrituale jenes Staates, der keine Demokratie ist, aber nach meinem Eindruck von der Zustimmung von großen Teilen seiner Bevölkerung getragen wird. Der Präsident ist mehrfach von einer Mehrheit der Bevölkerung gewählt worden, auch wenn diese Zustimmung nach der Analyse unabhängiger Wahlbeobachter zwar nicht bei über 70 Prozent aber doch über 50 Prozent lag[i]. Ob das an politischer Apathie liegt oder ob die Zustimmung der Bevölkerung zu seiner Regierung dadurch gegeben ist, weil es dem Land wirtschaftlich besser geht als anderen Nachbarn, kann durch mich als durchreisenden Beobachter nicht ohne weiteres festgestellt werden.
Belarus leidet zwar auch unter den westlichen Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland, weil seine Wirtschaft eng mit der russischen verflochten ist, aber es ist jedenfalls in einer besseren Lage als sein großer südlicher Nachbar. Über die Höhe des BIP wurde bereits informiert. Die Korruption ist nach Einschätzung des Corruption Perception Index in Belarus geringer als in seinen post-sowjetischen Nachbarn, 2015 stand das Land auf Platz 107, Russland auf Platz 119, die Ukraine auf dem 130. Platz[ii] (Es gilt, je niedriger, desto besser). Ich habe anders als in Kiew nicht diese große Zahl von schwarzen Porsche Cayenne (oder ähnlich teuren SUVs) entdeckt, die dort Statussymbol einer korrupten Oberschicht sind. Im Vergleich zur Ukraine sind die Wohnhäuser in Belarus in einem besseren Zustand. Unsere jugendlichen Begleiter waren modisch angezogen und dachten modern.
Der Besuch in diesem Land war für mich, der ich als ehemaliger DDR-Bürger und Student in der Sowjetunion mit den Ritualen der Feiern vertraut war, wie eine Reise in eine ferne Vergangenheit: Die Rede des Präsidenten, die festlich geschmückte Stadt, die an den Straßen im Zentrum stehenden unauffällig-auffälligen Herren in ihren zivilen Anzugsuniformen, die Pioniere und die Veteranen des Krieges, am Nachmittag das Volksfest im Zentrum, das Feuerwerk am Abend.
Der Sieg im großen Krieg ist so etwas wie die weißrussische Staatsideologie. Aber es ist keine Ideologie, die sich aggressiv nach außen richtet. Die politische Führung in Belarus will vor allem die Unabhängigkeit des Landes festigen und gleichzeitig eine Brücke zwischen Westeuropa und Russland sein. Diese Politik wurde mit den Minsker Vereinbarungen zum Krieg in der Ostukraine bestätigt. In Minsk laufen nach wie vor und ohne großes Aufsehen die Verhandlungen der Kontaktgruppe, in denen nach Wegen zur Umsetzung der Abkommen vom Februar letzten Jahres gesucht wird.
Wir haben eine private Farm besucht, auf der 700 Milch- und eine ebenso große Zahl von Fleischkühen standen und die auf 3,5 Tsd. Hektar das Futter für diese Tiere produziert. Die Farm gehört zu einem privaten inländischen Lebensmittelkonzern, der Lebensmittel auch verarbeitet und verkauft. Darüber hinaus gehört ihm das einzige weißrussische Skigebiet und das dazugehörige Restaurant und Hotel. Zehn Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe sind privat. Der Rest sind staatliche und genossenschaftliche Betriebe. Der Leiter der Farm meinte, jene landwirtschaftlichen Betriebe seien zu ineffizient, es gäbe im Vergleich zur effizienteren westeuropäischen Landwirtschaft zu viele Beschäftigte. In seinem Betrieb jedenfalls würden moderne Maschinen eingesetzt und nicht mehr Menschen beschäftigt als erforderlich. Der Betrieb habe aber auch eigene Betriebswohnungen und soziale Einrichtungen.
Das vom Präsidenten verfolgte Konzept für die Wirtschaft ist das einer gemischten Wirtschaft, einer sozialen Marktwirtschaft. Die Wirtschaft ist international verflochten, ca. 40 Prozent des Exports gingen 2014 nach Russland, aber es gibt auch einen umfangreichen Handel mit Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, Österreich. Es werden nicht nur Rohstoffe und wenig verarbeitete Materialien exportiert, sondern auch Textilien und Maschinen, das Land besitzt u.a. eine moderne Traktorenfabrik.
Belarus ist vieles, ein Land mit einer lernbegierigen Jugend, eine Gesellschaft ohne die tiefe soziale Kluft anderer post-sowjetischer Gesellschaften, vielleicht auch ein Freiluftmuseum des sowjetischen Sozialismus, wie ein Teilnehmer unserer Delegation meinte, es ist ein Land, das sich weder von Westeuropa noch von seinen osteuropäischen Nachbarn abgrenzen möchte, ein Staat, in dem die eigene Nationalsprache kaum gesprochen wird; aber sicher ist es nicht allein durch seine Regierungsform zu charakterisieren. Allerdings ist es das letzte Land Europas, in dem die Todesstrafe noch nicht abgeschafft wurde. Ich bin jedenfalls als Osteuropaforscher während dieser kurzen Exkursion neugierig geworden auf Belarus und etwas weniger sicher in meinen Erklärungen.
[i] So 2010 durch das unabhängige soziologische Institut NISEPD auf Grundlage eines Exit Polls festgestellt. Siehe den entsprechenden Bericht von Radio Svoboda vom 20.01.2011 „НІСЭПД: за Лукашэнку — 51,1%“ http://www.svaboda.org/content/article/2281419.html (zuletzt am 18.05.2016 abgerufen)
[ii] http://www.transparency.org/cpi2015#results-table (Zuletzt am 18.05.2016 abgerufen)
Guten Tag oder besser….dobre djen.
Ich lebe nun seit ca.10 Jahren abwechselnd in D. und Belarus.
Ich freue mich über diesen ausgewogenen Bericht. Im Grundsatz ist dem nichts hinzuzufügen. In diesen 10Jahren hat sich einiges verändert. Ich fühle mich hier gut integriert und föhle mich sicher. Leider ganz im Gegensatz zu D. Übrigens, wenn man so von außen auf Europa schaut, kann einem schon Angst und Bange werden. Aber leider haben nicht so viel Menschen die Sicht auf die Dinge von beiden Seiten.
in diesem Sinne alles Gute und beste Grüße aus Belarus.
Daswiedanje sagt Kalle Fiege
PS. ich stieß durch reinen Zufall (Stöbern im IT, dass hier absolut frei empfangbar ist) auf Ihren Bericht.