Die Kirchen in Mittel- und Osteuropa und ihre gefährliche Nähe zum Staat
Es gibt vermutlich kaum eine Institution in Mittel- und Osteuropa, die von den politischen Veränderungen vor gut einem Vierteljahrhundert so viel profitiert hat wie die Kirchen und Glaubensgemeinschaften. In den sozialistischen Staaten wurde Religion als eine gesellschaftliche Größe betrachtet, die mit zunehmender Aufklärung der Menschen von selber verschwinden würde. Die Menschen müssten erst einmal verstanden haben, dass Religion eine Fiktion mit dem Zweck ist, die Arbeiterklasse in Unterdrückung zu halten und auf eine bessere Welt zu vertrösten, und dass die Kirchen nur Institutionen sind, die den Herrschenden dienen. Dann würden sie sich, so glaubte man, von selber von der Religion abwenden. Religion und Kirchen würden nach den Vorstellungen der Marxisten mit der Zeit – nämlich mit dem wachsenden Bewusstsein der Menschen – einfach von selber verschwinden. Nun haben aber die konkret existierenden sozialistischen Staaten diesen Prozess nicht einfach abgewartet, sondern mit Gewalt versucht, Kirchen und Religion zu beseitigen. In fast allen Staaten ist es zumindest gelungen, den Einfluss der Kirchen erheblich zu verringern. Die einzige Ausnahme ist Polen: Dort hat es die kommunistische Herrschaft nie geschafft, die katholische Kirche zum Schweigen zu bringen oder wenigstens ihre gesellschaftliche Rolle zu verkleinern.
Es ist also nachvollziehbar, dass in den Kirchen (und ebenso in den anderen Religionsgemeinschaften, auch wenn sie in Mittel- und Osteuropa nicht so eine große Rolle spielen wie die christlichen Kirchen) große Erleichterung zu verspüren war, als seit der Perestrojka in der UdSSR und den Regierungs- und Systemwechseln in den anderen ehemals kommunistischen Staaten die Verfolgung nachließ und schließlich ganz endete. Jedoch fanden sich die Kirchen nun in einer völlig neuen Situation vor: Sie konnten nicht einfach dort weitermachen, wo ihre historische Entwicklung 1917 oder nach dem Zweiten Weltkrieg unterbrochen worden war. Die Welt war eine andere geworden, und ebenso die Gesellschaften, in denen die Kirchen lebten. Säkularisierung war nicht nur eine Folge des Kommunismus, sondern ein auch in vielen westlichen Ländern verbreitetes Phänomen. Die Kirchen sahen sich einer religiösen Konkurrenz ausgesetzt, die es vorher nicht gegeben hatte. Sie mussten sich in pluralen Gesellschaften zurechtfinden. Und nicht zuletzt stellten die praktischen und materiellen Probleme – der Mangel an Gebäuden, Personal, Ausbildungsmöglichkeiten und Presseorganen – sie vor große Herausforderungen. Diese Probleme waren auch dadurch bestimmt, dass sich viele Menschen der Religion wieder (oder neu) zuwandten und dass die Kirchen fast überall großes Ansehen genossen – an und für sich ein positives Phänomen, aber für die betroffenen Kirchen eine Herausforderung.
In Mittel- und Osteuropa gibt es nur zwei Gebiete, in denen das Ende des Kommunismus nicht zu einem neuen Aufblühen von Religion geführt hat: Das sind die frühere DDR und die Tschechische Republik. Diese beiden Regionen – ein früherer Staat und der Teil eines früheren Staates – sind diejenigen Bereiche der Erde, in denen die Bevölkerung am wenigsten religiös ist. In allen anderen postkommunistischen Staaten und Regionen jedoch hat die Religiosität zugenommen, zum Teil sogar erheblich. Dafür lassen sich viele Gründe anführen: das Ende der Verfolgungen (und damit zusammenhängend das Wiederaufleben des unterdrückten Glaubens), die Suche nach Sinn und einer Welterklärung, die Suche nach einer neuen Ideologie, oder das Entdecken einer neuen kollektiven Identität. Letzteres lässt sich vor allem bei Nationen festmachen, die in einem größeren Staatenverbund gelebt haben und die nicht nur die Religionsfreiheit, sondern auch ihre nationale Identität eingeschränkt gesehen haben. Ukrainer, Kroaten oder Slowaken sind Beispiele hierfür. In diesen Fällen war die religiöse Identität auch wichtig für den Prozess der Nationsbildung im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Diese Verbindung zwischen zwei Faktoren, die nicht notwendig zusammengehören müssen, nämlich Nation und Religion, hatte weitreichende Folgen. Das gilt besonders für die Fälle, in denen im Zusammenhang mit der Auflösung des Systems bewaffnete Konflikte oder Kriege entstanden. So zeigen die Kriege im früheren Jugoslawien, wie sich die großen Religionsgemeinschaften auf die Seiten „ihrer“ Nationen schlugen – die Serbische Orthodoxe Kirche unterstützte die serbischen Forderungen, die katholische Kirche stand auf der kroatischen Seite und die muslimische Gemeinschaft vertrat die Anliegen der Bosniaken. Jedoch ist hier zu differenzieren: Diese Religionsgemeinschaften standen auf der Seite der Nationen, nicht notwendig auf der der Staaten oder gar der Regierungen. Die serbische Kirche hat sich mehrfach von Milošević distanziert (der ja noch ein Vertreter des sozialistischen Regimes war), die katholische Kirche hieß bei Weitem nicht alle Aussagen und Aktionen der kroatischen Regierung gut, und auch bei den Muslimen gab es unterschiedliche Positionen (wenngleich hier die Homogenität am deutlichsten war). Außerdem kam es – historisch einmalig! – während des Krieges zu Begegnungen der Kirchenführer, bei denen diese gemeinsam zu einem sofortigen Waffenstillstand aufriefen. Auch wenn diese Appelle fruchtlos blieben, so ist es doch bemerkenswert, dass es in der Frage nach einer gewaltfreien Konfliktbearbeitung bei allen Unterschieden in der politischen Einschätzung immerhin eine gemeinsame Basis gab. Eine ähnliche Nähe zwischen Nation und Kirche lässt sich traditionell in Polen feststellen, ebenso in Rumänien oder in Estland. Dass das nicht nur ein in Mittel- und Osteuropa anzutreffendes Phänomen ist, zeigen etwa die Rolle des Katholizismus für das irische Nationalbewusstsein, oder die historische Bedeutung des Calvinismus für die Niederländer.
In einer Reihe von Fällen hat sich die Solidarität der Religionsgemeinschaften nicht nur auf die Nation bezogen, sondern auf den Staat – es ist nicht überraschend, dass das in besonderer Weise für (oft neu entstandene) Nationalstaaten gilt, wo sich die dominierende Glaubensgemeinschaft häufig zu einer ideologischen Stütze für den Staat entwickelt hat, nicht selten um den Preis der Diskriminierung religiöser Minderheiten. Die staatlichen Behörden waren ihrerseits oft bereit, den Religionsgemeinschaften entgegenzukommen. Das beginnt bei symbolischen Handlungen – so verzichtet die bosnische Regierung bei offiziellen Anlässen und Empfängen auf den Ausschank von Alkohol – und geht über finanzielle Vorteile – etwa den Verzicht auf Besteuerung und Verzollung von Einfuhren, den die russische Regierung der orthodoxen Kirche gewährt hat – bis hin zu Akten wie der Einführung von Religionsunterricht oder der Anerkennung der kirchlichen Eheschließung auch als standesamtliche Trauung, wie das in Kroatien der Fall ist. Manche Dinge davon entsprechen der Praxis in westlichen Ländern, andere sind Anknüpfungen an die vorkommunistische Zeit, wieder andere wurden neu eingeführt.
Noch wichtiger ist jedoch, dass dadurch den Kirchen eine wichtige korrektive Funktion für die Gesellschaft verloren geht, bzw. dass sie gar nicht erst entstehen kann. Das lässt sich einfach durch einen Vergleich zwischen west- und osteuropäischen Staaten zeigen. Die großen Kirchen in Österreich und Deutschland waren in der Zeit der großen Einwanderung von Flüchtlingen 2015 und 2016 Fürsprecher einer offenen Haltung, viele Christinnen und Christen haben sich aktiv an der Flüchtlingshilfe beteiligt und die Kirchen sprechen sich heute etwa gegen Abschiebungen in unsichere Staaten aus. Zugleich haben viele bedeutende katholischen Amtsträger in der Tschechischen Republik, in Polen, der Slowakei und Ungarn mit Hinweis auf das christliche Erbe ihrer Staaten die Aufnahme von Flüchtlingen, vor allem von solchen muslimischen Glaubens, verwehrt. Als Papst Franziskus anlässlich des katholischen Weltjugendtages 2016 Polen besuchte, hat er nicht nur die polnische Regierung, sondern auch die katholischen Bischöfe des Landes auf dieses Thema angesprochen.
Ein anderes Thema ist das Verhältnis zu den „traditionellen Werten“. Hierzu gehört vor allem ein Familienbild, das aus Eltern (verschiedenen Geschlechts) und Kindern besteht. Es wird besonders dafür verwendet, um gegen Homosexualität generell und die staatliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensformen Stellung zu beziehen. „Traditionelle Werte“ können aber auch etwa in der Unterordnung der Frau unter den Mann gegeben sein: Unlängst hat der russische Präsident Putin ein Gesetz unterzeichnet, wonach häusliche Gewalt zumindest beim ersten Mal keine Straftat mehr ist, sondern eine Ordnungswidrigkeit. Ein orthodoxer Priester, Vorsitzender der Familien-Kommission seiner Kirche, begrüßte das Gesetz mit dem Hinweis darauf, dass „der vernünftige und liebevolle Gebrauch von Körperstrafen als untrennbarer Teil der Elternrechte von Gott selbst eingesetzt“ worden sei. Kirchen im Westen haben sich sehr deutlich gegen häusliche Gewalt (faktisch fast immer Gewalt gegen Frauen und Kinder) ausgesprochen; selbst Vertreter der katholischen Kirche, die darauf besteht, dass Ehen auf Dauer angelegt sind, haben darauf hingewiesen, dass ein Gewalttäter das Eheband bereits zerstört habe und man die betroffenen Frauen nicht zu Geduld und zum Aushalten ermahnen dürfe. Sowohl von einigen Staaten wie Russland oder Polen als auch von den Kirchen wird die Kategorie von den „traditionellen Werten“ zumeist dafür verwendet, um gegen Erscheinungsformen der Moderne vorzugehen.
Auch für viele nichtreligiöse Menschen haben die Kirche eine wichtige Funktion, insofern sie auf der Grundlage der religiösen Werte gesellschaftliche Defizite anprangern und vor gefährlichen Entwicklungen warnen können. Sie sind dann Teilnehmer am gesellschaftlichen Diskurs und Akteure der Zivilgesellschaft. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften in Mittel- und Osteuropa haben nach dem Systemwechsel diese Position vielfach nicht. Wenn sie sich zu sehr an die Staaten anlehnen, dann können sie eine solche Position auch nicht einfach erreichen. Ihre Erfahrung aus dem 20. Jahrhundert sollte ihnen eigentlich zeigen, dass Staaten und Systeme nicht notwendig stabil sind – die Kirchen wären daher oft besser beraten, sich auf ihre eigentlichen Werte zu besinnen und diese in größerer Unabhängigkeit zu vertreten.