Wenig Fortschritte in Bosnien-Herzegowina 25 Jahre nach Kriegsbeginn

Wenig Fortschritte in Bosnien-Herzegowina 25 Jahre nach Kriegsbeginn

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Vor einem Vierteljahrhundert begann der Bosnienkrieg. Die historischen Fakten sind schnell aufgezählt. Nachdem der Vielvölkerstaat Jugoslawien nicht mehr zu retten war – die Schuld dafür geben die zerstrittenen Völker auch heute noch der jeweils anderen Seite – sprachen sich am 1. März 1992 über 99 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit Bosniens aus. Allerdings wurde die Abstimmung von den orthodoxen Serben boykottiert, die damals wie heute ein knappes Drittel der etwa 4,4 Millionen Einwohner stellten. 44 Prozent der Bevölkerung stellten die muslimischen Bosniaken, gut 17 Prozent die katholischen Kroaten. Da die drei Staatsvölker ohne Animositäten nicht streng nebeneinander, sondern miteinander lebten (ein Drittel aller Ehen waren national gemischt), wurde die Landkarte dieser jugoslawischen Republik immer gern mit einem gescheckten Leopardenfell verglichen. Bosnien pflegte seinen Ruf als „Jugoslawien im Kleinen“.

Am 3. März erklärt sich die Republik für unabhängig – erneut gegen vergeblichen serbischen Widerstand. Als Reaktion nehmen serbische Kräfte den Flughafen von Sarajevo ein. Am 6. April erkennt die Europäische Gemeinschaft (EG) den neuen Staat völkerrechtlich an, die USA folgen am nächsten Tag. Die Folge sind Kämpfe im ganzen Land mit den ersten mehreren Dutzend Toten. Die grausamen Auseinandersetzungen zwischen Bosniaken und Kroaten auf der einen sowie bosnischen Serben und zeitweise auch Kroaten gegen Bosniaken auf der anderen Seite enden in einer Tragödie[i]:

– Der grausamste Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg mit über 100 000 Toten und über zwei Millionen Vertriebenen; systematische Massenvergewaltigungen und unvorstellbar brutale Straflager eingeschlossen.

– Mehr als 700 000 Menschen flüchten ins Ausland, knapp 100 000 von ihnen nach Österreich, die Hälfte nach Deutschland. Die allermeisten sind wieder zurückgekehrt.

– Nur wenige Schuldige für die Kriegsgräuel sind vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verurteilt worden. Die allermeisten Täter leben weiter unbehelligt auf freiem Fuß.[ii]

 

Die Aufbaubemühungen

Die Internationale Gemeinschaft – allen voran die EU und die USA – gaben Milliarden Euro aus, um den Friedensprozess und die Versöhnung der Völker anzuschieben. Ein Heer von Diplomaten und Experten gibt seitdem Hilfestellungen: Neben den vielen bilateralen Botschaften unterhalten die OSZE, die UN samt Unterorganisationen wie UNICEF, UNHCR, die OSZE, die EU, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds, zahlreiche Organisationen der Entwicklungshilfe sowie eine fast unübersehbare Zahl politischer Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen verhältnismäßig große Büros in diesem kleinen Balkanland. Trotz aller Bemühungen ist die aktuelle Lage deprimierend. Bosnien steckt wegen des zum Teil bis zu persönlichen Beleidigungen reichenden tiefen Streits seiner Spitzenpolitiker seit zweieinhalb Jahrzehnten in einer selbst verschuldeten Sackgasse, in der Reformen und Modernisierungen auf der Strecke bleiben. Symptomatisch dafür waren die sozialen Unruhen im Februar 2014, als in vielen Städten wie in Tuzla und Sarajevo völlig verarmte Demonstranten wütend selbst das Gebäude des Staatspräsidiums in Brand steckten.[iii]

Die aktuelle Situation

Die durch die schwere wirtschaftliche und soziale Krise demoralisierten Menschen reagieren mit Massenabwanderung. Die letzte Volkszählung hat 2013 gezeigt, dass fast ein Viertel der Bevölkerung der Vorkriegszeit das Land inzwischen verlassen hat.[iv] Und dieser Trend hält an, weil praktisch niemand an eine Besserung der Lage auf mittlere Sicht glaubt. Konkrete Zahlen über die jährliche Auswanderung sind nicht verfügbar.[v] Doch macht sich im ganzen Land bereits der Mangel an Ärzten und Pflegepersonal bemerkbar, weil viele Mediziner einen Weg vor allem nach Österreich und Deutschland, aber auch in die Schweiz, Skandinavien und Großbritannien gefunden haben.

Die Serben in ihrer Landeshälfte streben nach Abspaltung der Republika Srpska und ihren Anschluss an die benachbarte „Mutterrepublik“ Serbien. Vorreiter dieser Bewegung ist ihr unangefochten mächtigster Spitzenpolitiker, „Präsident“ Milorad Dodik. Der macht nach Kräften und regelmäßig den Gesamtstaat lächerlich und hat vor allem für die Bosniaken, die seit neuestem knapp die Mehrheit der 3,5 Millionen Einwohner bilden, nur Spott und Verachtung übrig.[vi] Daher haben die USA jetzt Sanktionen gegen Dodik verhängt.[vii]

Auf der anderen Seite will die hauchdünne muslimische Mehrheit auf keinen Fall ein Ausscheiden der Serben aus dem Staatsverband zulassen. Im Gegenteil. Sie strebt die Stärkung des Bundesstaates an nach dem Motto „Eine Person – ein Stimme“. Bisher sind fast alle Entscheidungen in der Verfassung so geregelt, dass bei wichtigen Fragen immer alle drei Völker zustimmen müssen. Die Entscheidungsprozesse werden damit fast unmöglich gemacht, weil in der Regel eine der drei Parteien mit ihrem Veto alles verhindern kann. Gelichzeitig steigt damit das Erpressungspotenzial als Mittel in der politischen Auseinandersetzung. Schließlich wollen die Kroaten, die bislang gemeinsam mit den Bosniaken die zweiten Landeshälfte („Föderation“) regieren, ihrerseits mehr Selbstständigkeit durch die Schaffung einer dritten, kroatischen Entität. Die internationale Gemeinschaft möchte sich für keines dieser drei Ziele einspannen lassen, um nicht Partei in diesem Dauerkonflikt zu ergreifen.

Die Ursachen der Misere

Das zentrale Problem Bosniens liegt in den politischen Parteien, die streng nach religiös-nationalen und nicht nach bürgerlichen Prinzipien organisiert sind. Ein Muslim wählt eine der beiden großen muslimischen Parteien (SDA oder SBB), ein Serbe kann aus seiner Sicht nur eine Serbenpartei wählen. Das ist in der Republika Srpska entweder die Regierungspartei von Dodik (SNSD) oder die Oppositionsvariante (SDS). Die dominante Partei der Kroaten ist die HDZ. Alle nationalen Parteien geben vor, nur sie könnten ihre Landsleute von angeblich drohender Majorisierung durch die jeweils anderen beiden Nationen schützen. Das ist offensichtlich noch ein Reflex aus Kriegszeiten, in denen auch Religion, Nation und politische Partei eine Dreieinigkeit bildeten.

Erschwert wird die innenpolitische Lage durch die undemokratischen inneren Strukturen ausnahmslos aller Parteien. Sie sind nicht von unten nach oben, sondern als so genannte Führerparteien von oben nach unten organisiert. Jeder Partei kann ein einziger Parteiführer zugeordnet werden, der praktisch alles bestimmt. Innerparteilich herrscht ein Klientelsystem. Der Parteiführer und seine engsten Mitarbeiter bestimmen die Delegierten auf den Parteiveranstaltungen. Die bekunden ihre Loyalität durch die Wahl der Führung. Die sorgt im Gegenzug für Benefizien zugunsten der Parteifunktionäre: Arbeitsplätze in der Staatsverwaltung sowie den staatsnahen Organisationen oder in den zahlreichen Staatsbetrieben – nicht nur für den jeweiligen Funktionär, sondern auch für dessen Familie. Es geht weiter über Bau- und Privatkredite parteiabhängiger Banken, über Baugenehmigungen und günstige Rahmenbedingungen für private Unternehmen bis zum Schutz vor einer wenn auch nur selten unbotmäßigen Justiz.

„Die Parteien sind nach dem Mafia-System organisiert“, kritisiert seit Jahren der Direktor der bosnischen Filiale von Transparency International, Srdjan Blagovcanin.[viii] Der noch zu jugoslawischen Zeiten prominente Politiker und Soziologe Zarko Papic sagt ganz ähnlich: „Das sind Kartell-Organisationen. Der Don oder Pate kann niemals zurücktreten, weil sonst das ganze Kartell zerfallen würde“.[ix] Die so demokratiefeindlich organisierten Parteien sind die Quelle von Korruption und beherrschen alle Teile von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Sie dominieren die Justiz ebenso wie die Medien. All ihre Macht wird zur Verteilung von Pfründen eingesetzt. Es gibt kaum echte politische oder ideologische Auseinandersetzungen, weil die Interessensgebiete der Parteien fein voneinander abgegrenzt sind: Die Kroaten haben in der Herzegowina das Sagen, die Muslime in Sarajevo, die Serben in Banja Luka usw. „Solange sich die Parteien nicht reformieren, wird es überhaupt keine Reformen geben“, sind sich die wenigen kritischen Wissenschaftler und Publizisten sicher, die nicht zu diesen Machkartellen gehören. Doch sind systemimmanent keine grundlegenden Änderungen zu erwarten. In der öffentlichen Verwaltung und den Staatsbetrieben des Landes sind 230 000 Menschen beschäftigt. Zusammen mit Familienangehörigen und Bekannten machen sie gut eine Million loyaler Wähler aus. Bei etwa drei Millionen Wahlberechtigten und einer Wahlbeteiligung von zuletzt nur gut 50 Prozent reicht das allemal für Wahlsiege.[x]

Folgerichtig kann Änderung nur von außen kommen in Gestalt der EU und den USA. Aber: „Die internationale Gemeinschaft ist selbst ein großer Teil der Problems geworden“, sagt der Soziologieprofessor Esad Bajtal in Sarajevo. Die vielen Diplomaten im Land agierten viel zu passiv. „Es ist psychologisch verständlich, dass die Internationalen nicht viel Interesse daran haben, das sich die Lage wesentlich bessert, denn damit gefährdeten sie ihre eigene Position.“ Und die sei mit all den vielen Privilegien mehr als ausgezeichnet.[xi]

Offensichtlich sind nur weitere Finanzspritzen mögliche Hebel, um die innenpolitische Blockade aufzulösen. So ist das Parlament auf Bundesebene wegen des politischen Dauerstreits seit Monaten blockiert. Erst die Drohung des Währungsfonds (IWF), eine Kreditrate von 75 Millionen Euro nicht auszuzahlen, weil das Parlament wegen Beschlussunfähigkeit nicht die eigentlich verabredeten Reformgesetze auf den Weg gebracht, half: Am 07. April endlich rauften sich die zerstrittenen Parlamentarier doch zusammen und stimmten für die fraglichen Gesetze. Denn sonst hätte den beiden Landeshälften schnell der finanzielle Bankrott gedroht.[xii]

Es gibt noch eine zweite Voraussetzung, ohne die Bosnien-Herzegowina nicht aus der selbst verschuldeten Sackgasse herauskommt: „Ohne Aufarbeitung der Vergangenheit hat das Land keine Zukunft“, sagt der prominente parteilose Jurist Vehid Sehic, der in der Industriestadt Tuzla das regierungskritische „Bürgerforum“ leitet: „Bosnien ist die Geisel seiner Vergangenheit, weil der Aufbau des Friedens den Menschen überlassen wurde, die aktiv am Krieg teilgenommen hatten. Es stellt sich die logische Frage, wie diejenigen jetzt Frieden schaffen können, deren politische Ideologie in den 90er Jahren den Frieden zerstört hatte?“ Und: „Eine Änderung der Lage in Bosnien kann solange nicht kommen, wie die aktuellen politischen Oligarchien an der Macht sind, für die alle Arten von Korruption sowie die Organisierte Kriminalität charakteristisch sind“. Ein Umdenken im Lande sei nur mit Druck der USA und der EU zu erreichen, die bisher diesen „Pseudoeliten“ gegenüber viel zu nachsichtig gewesen seien.[xiii]

[i] Kriegsdokumentation des ORF vom 30.11.2016: https://www.youtube.com/watch?v=COBCpjUXFxs (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017); 20 Jahre nach dem Bosnienkrieg – Dokumentation des Bayerischen Rundfunks vom 16.07.2015: https://www.youtube.com/watch?v=6fdnykunCts (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017).

[ii] Die vom „Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien“ organisierten Strafprozesse auch für den Bosnienkrieg: http://www.icty.org/en/action/cases/4 (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017).

[iii] Einzelheiten bei der Heinrich Böll-Stiftung: https://www.boell.de/de/2014/02/14/bosnien-und-herzegowina (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017).

[iv] Ausführliche Daten der Volkszählung in der Sarajevoer Zeitung „Dnevni avaz“ vom 30.06.2016: http://www.avaz.ba/clanak/244234/popis-stanovnistva-u-bih-ima-50-11-posto-bosnjaka-30-78-srba-i-15-43-posto-hrvata (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017).

[v] Teilaspekte im Portal Klix vom 19.06.2015: https://www.klix.ba/vijesti/bih/zabrinjavajuci-podaci-iz-drzave-se-iseljavaju-pripadnici-sva-tri-konstitutivna-naroda/150617090 (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017).

[vi] Ankündigung des Unabhängigkeitsreferendums für 2017 im TV: http://www.rtrs.tv/vijesti/vijest.php?id=236644 (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017).

[vii] Mitteilung des US-Finanzministeriums vom 17.01.2017: https://www.treasury.gov/press-center/press-releases/Pages/jl0708.aspx (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017).

[viii] Quelle: http://www.autonomija.info/srdan-blagovcanin-stranke-ustrojene-po-sistemu-mafije.html (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017).

[ix] Quelle: http://www.avaz.ba/clanak/281600/zarko-papic-sda-je-kartelska-organizacija-a-bakir-je-don?url=clanak/281600/zarko-papic-sda-je-kartelska-organizacija-a-bakir-je-don (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017).

[x] Thomas Brey, Parteien in Ex-Jugoslawien als Reform- und Modernisierungshindernisse, in: Südosteuropa Mitteilungen 05/2015, S. 16-27.

[xi] ibid. Interview mit dem Autor, S. 27.

[xii] Einzelheiten in der größten Zeitung „Dnevni Avaz“: http://www.avaz.ba/clanak/285888/dom-naroda-bih-usvojio-set-zakona-o-akcizama (zuletzt aufgerufen am 7.4.2017).

[xiii] Interview der Deutschen Presse-Agentur dpa, veröffentlicht am 05.04.2017.

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