Über Populisten und falsche Alternativen – Lehren aus Osteuropa
Macron oder Le Pen, wenn man dem Tenor unserer Medien folgt, fällt die Wahl nicht schwer. Doch bevor voreilige Schlüsse gezogen werden, sollte man zuerst genauer hinschauen und die Umstände analysieren. Ähnliche Entwicklungen wie in Frankreich gab es zuvor schon in nahezu allen osteuropäischen Ländern: Es kam in den letzten Jahren zu beachtlichen Wahlerfolgen der Nationalpopulisten. Was können wir also aus den Erfahrungen in Osteuropa lernen?
Der Aufstieg der Populisten in Osteuropa
Auch in Osteuropa gab es einen Zeitpunkt, zu dem schien allen klar zu sein, wen man wählen sollte. In den Neunziger Jahre gab es scheinbar nur eine Antwort: die Opposition. Die Regierung hatte vier Jahre Zeit und es gab genügend Grund zu klagen. Also warum nicht der anderen Seite des politischen Spektrums eine Chance geben. Und so schaukelte es sich von den „Konservativen“ zu den „Sozialdemokraten“ und zurück. In Ungarn war es 1990 das „MDF“ (konservativ), 1994 die MSZP (sozialdemokratisch), 1998 Fidesz (konservativ). In Polen sah es so aus: 1991 die Parteien der Solidarnosc (konservativ), 1993 regierten SLD und PSL (sozialdemokratisch/Bauernpartei), 1997 wieder die Solidarnosc, 2001 die SLD. Das könnte man fortsetzen. Das Problem dieser Regierungsablösung nach jeder Wahl war, dass trotz Regierungswechsel die Unzufriedenheit der Bevölkerung anstieg. Dann kam die Stunde der Nationalpopulisten.
Insofern wäre es wichtig, sich mit den Gründen der anhaltenden Unzufriedenheit zu beschäftigen. Sie steigerte sich zu einer Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten. In den genannten Ländern Osteuropas bestand der allgemeine Grund darin, dass die liberale Demokratie, wie Ivan Krastev es ausdrückte, „nicht geliefert hat“, was sie versprach.[i] Sie versprach nicht nur politische Freiheit, sondern auch ein gutes Leben für all diejenigen, die sich anstrengen. Vor allem letzteres konnte sie größtenteils nicht liefern. Die Erwartung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung in der Krise des „Ancien Régimes“ um 1989 war gewesen, dass man zum Westen aufschließen, dessen Institutionen übernehmen und damit auch dessen erfolgreiches gesellschaftliches Modell übernehmen könne. Zumindest nach einiger Zeit. Spätestens 2008 aber, während der Weltfinanzkrise, wurde klar, dass diese Erwartung auf lange Zeit enttäuscht werden würde. Vor kurzem kritisierte der tschechische Ministerpräsident Sobotka, dass man auch 25 Jahre nach Beginn der Transformation von einem Lebensniveau wie in den alten EU-Ländern weit entfernt sei.[ii]
Dazu kamen andere unangenehme Überraschungen. Die neue politische Klasse in allen ihren Fraktionen, ob „konservativ“ oder „sozialdemokratisch“, hatte sich als wenig sensible für die Nöte und Interessen der einfachen Leute gezeigt. Viele ihrer Vertreter bereicherten sich persönlich als die Gelegenheit dazu da war. Während der Transformation, Zeit der umfassendsten Privatisierung von öffentlichem Eigentum in der Geschichte der Neuzeit, bestand dazu offenbar reichlich Gelegenheit.
Man könnte sich natürlich fragen, warum so viele Politiker sich selbst bedienten. Das ist sicher nicht nur eine Charakterfrage, sondern vielfältig bedingt und bedürfte weiterer Analyse. Korruption ist ein Phänomen, das sich nur schwer als ein konkretes Delikt untersuchen lässt, weil niemand, der beteiligt ist, daran interessiert ist, dass die Wahrheit ans Licht kommt. In Österreich gibt es dazu auch prominente Erfahrungen: Es gilt die Unschuldsvermutung! Wichtiger als die Suche nach den individuellen Gründen ist bei einem Massenphänomen allerdings die Frage nach der Ursache der Gelegenheiten. Warum war eine sich selbst bedienende politische Kaste in diesem Massenumfang möglich? Hier hat institutionelle Kontrolle versagt. In vielen Ländern war die Unabhängigkeit der Justiz noch unvollständig. Der Parteienpluralismus funktionierte auch nicht gut, weil es so etwas wie ein Kartell der Gewinner der Transformation gab. Protest als Gegengewicht gegen eine abgehobene Elite war anfangs schwach, weil alle damit beschäftigt waren, sich in die radikal sich verändernden Bedingungen des Alltags einzufinden.
Aber es gab auch in Osteuropa einen Zeitgeist, der dem nicht entgegenstand. Dieser Zeitgeist feuerte alle – auch jenseits der politischen Elite – an, sich zu bereichern. Geld war zum einzigen Maßstab geworden, an dem Leistung und Ansehen gemessen wurde. In der Wirtschaft war schneller Reichtum möglich, warum also auch nicht in der Politik. Im Wettbewerb zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sozialistischen Osten hatte der Westen gewonnen, und die Wertschätzung des Geldes als zentraler Maßstab von persönlichem Erfolg kam mit diesem Sieg.
Populismus als Schmarotzen an Repräsentationsdefiziten
Mit der zunehmenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihren politischen Klassen schlug die Stunde der Populisten. In Bulgarien war das die Zeit, in der Simeon Sakskoburggotski, der letzte Zar des Landes, aus dem Nichts eine Partei aufbaute und Ministerpräsident wurde. In Ungarn hatte der ehemalige liberale Studentenführer Orbán erkannt, dass es eine national-konservative Lücke im Parteiensystem gab und seine Partei erfolgreich in diese Ecke des Parteienfeldes bewegt. In der Slowakei schuf ein begabter Populist die Partei Smer, die er mit sozialdemokratischen Symbolen schmückte, aber mal links und mal rechts auf Stimmenfang ging. In Tschechien blieb das etablierte Parteiensystem der Transformationsperiode etwas länger stabil, bis dann 2010 der Bruch stattfand. Auch hier bildeten sich populistische Akteure, zuerst trat ein Journalist mit einem Unternehmer im Hintergrund an, dann kam ein anderer Unternehmer und gründete ANO. In Polen entstand ein zweipoliges Parteiensystem auf den Trümmern der Solidarnosc.
Polen ist überhaupt ein interessantes Beispiel, um auf unsere anfangs gestellte Frage zu antworten. Wie soll man mit der Alternativlosigkeit der Politik trotz vorhandener Alternativen, von denen keine Lösung der ernsten Probleme zu erwarten ist, umgehen? Die problematische Alternative zwischen einer neoliberalen und einer nationalpopulistische Politik trat in Polen ab 2005 in Form des Wettbewerbs zwischen der Bürgerplattform (PO) und der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) auf. Die eine Partei wird von Gruppen der Gesellschaft getragen, die mit dem neuen System und seinen Koordinaten am besten zurechtkommen, den Gewinnern der Transformation hin zu einer fahrlässig unkontrollierten, frei genannten, Wirtschaft und einer Politik, die die Solidarität untereinander erschwert. Die andere Partei wird unterstützt durch die Verlierer, die sich genau mit dieser gewandelten gesellschaftlichen Konstellation schwer tun und in einer nationalen Ideologie und einem starken, wohl auch autoritären, Staat und seinem Führer Schutz suchen.
Das politische System, die liberale Demokratie, die 1989 gesiegt hatte, basierte auf Gruppen von Politikern, die die Interessen und Hoffnungen, auch die Ängste, von Teilen der Wählerschaft repräsentieren. Es funktionierte nur solange, wie sich jene Wählerschichten sich auch durch sie vertreten fühlen. Wenn es zur beschriebenen Entfremdung kommt, dann schlägt die Stunde der Populisten, die jene Gebrechen anprangern, um selbst Einfluss zu gewinnen. Aber die weder die Absicht noch die Mittel haben, jene Funktionsfehler zu überwinden.
Lernen aus Osteuropa?
In Osteuropa hat sich ein solches funktionierendes Repräsentationssystem, das im Westen noch durch den sozialen Ausgleich ergänzt wurde, nie wirklich durchgesetzt. Hier wurden, getragen vom Zeitgeist der 1980er Jahre, nur seine Defizite voll durchgesetzt. Im Osten gibt es heute regierende nationalpopulistische Parteien (in Polen und Ungarn), Unternehmer, die selbst Politik betreiben – mitunter als Oligarchen bezeichnet – und Unternehmerparteien (Tschechien, Ukraine), rassistische Parteien im Parlament (Bulgarien, Ungarn, Slowakei). Das gibt es im Westen noch nicht oder doch in deutlich schwächerem Ausmaß.
Ich schreibe bewusst, bezogen auf den Westen Europas, von einer noch nicht vollendeten Bewegung. In Frankreich wird wahrscheinlich Macron gewählt werden, Le Pen verhindert. Aber der Front National wird nicht verschwinden. Die Populisten bleiben eine Macht, weil und solange die repräsentative Demokratie für die Sorgen und Nöte einer großen Gesellschaftsschicht blind bleibt. Vielleicht aber gelingt es irgendwo im Westen Europas, was in der traumatischen Transformation Osteuropas nach 1989 misslang: die Neuerfindung einer partizipativ demokratischen und solidarischen Politik.
[i] Ivan Krastev: Liberalism’s Failure to Deliver: Journal of Democracy, 2016, Vol.27(1), pp.35-38.
[ii] So eine Meldung von Radio Prag vom 21.2.2016.
Ein sehr guter Artikel. Ich denke es gibt noch zwei weitere Faktoren: zum Einen wurde nach 1989 der Kapitalismus in Osteuropa mit dem damaligen Glauben an den freien Markt sehr schnell und zu wenig staatlich reguliert eingeführt (heute würde man sagen neoliberal). Leider hat sich gezeigt, das dabei nur wenige gewinnen, und viele nicht dazugewinnen oder verlieren. Das krasseste Beispiel für das Scheitern des schnellen freien Marktes ist Russland. Schon damals hat z.B. Joseph Stiglitz vor einer solchen Entwicklung gewarnt. Zum Anderen wurde der Nationalismus in den Ländern des Ostblocks für Jahrzehnte z.T. gewaltsam unterdrückt, was nach 1989 zu einer Renaissance desselben führte. In Westeuropa sind beide Faktoren weniger schockartig entstanden, jedoch sinkt die Hemmschwelle rechte Bewegungen zu unterstützen in erschreckendem Maße.