Solidarischer Westen? Ablehnender Osten? Einstellungen in Europa zum Thema Migration
Die Themen Migration und Integration stehen vor allem seit 2015 im Zuge der erhöhten Zahlen an Flüchtlingen und Asylsuchenden im Mittelpunkt vielerlei öffentlicher Debatten. Allein der öffentliche Aufschrei nach dem „Kopftuch-Sager“ von Bundespräsident Alexander Van der Bellen verdeutlicht wie sensitiv dieses Thema behandelt wird. Derartige Debatten werden nicht nur in Österreich, sondern in allen europäischen Staaten geführt. Im Laufe der letzten beiden Jahre haben sich vor allem verschiedene osteuropäische Mitgliedsstaaten der Europäischen Union als besonders ablehnend gegenüber der Aufnahme von Asylsuchenden gezeigt.
Dabei sind manche der vorgebrachten Argumente durchaus begründet. Der tschechische Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten Tomáš Prouza äußerte Bedenken, dass die EU-weiten Quoten unfair den Flüchtlingen gegenüber wären, da sie nicht wie „Vieh“ in ein Land verfrachtet werden sollten und somit in Ländern leben müssen, in denen sie gar nicht sein wollen. Diese Haltung führte dazu, dass verschiedene westeuropäische PolitikerInnen öffentlich mehr Solidarität von den Mitgliedern im Osten der Union einforderten. Dieser Beitrag widmet sich vor allem der Frage wie die Bevölkerung in den europäischen Mitgliedsstaaten darauf auf die große Zahl an MigrantInnen reagiert hat. Dabei geht es vor allem um die Frage ob sich dieser vermeintliche Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa auch in den Einstellungen der Bevölkerung widerspiegelt.
Die Zahlen
Um sich dem sehr kontroversen Thema anzunähern, sollen in einem ersten Schritt verschiedene Zahlen zur Migrationsentwicklung präsentiert werden. Lag die Zahl der Asylanträge in der Europäischen Union bis 2012 noch bei deutlich unter 400 000 Anträgen pro Jahr, so stiegen diese in den Folgejahren stetig an. Der vorläufige Höhepunkt war das Jahr 2015 mit über 1,3 Millionen gestellten Anträgen. Dabei waren vor allem Staaten in Westeuropa das Hauptziel der MigrantInnen, allen voran Deutschland, Italien, Österreich und Schweden. Ungarn war zumindest im Jahr 2015 das einzige osteuropäische Land, das ebenfalls einen deutlichen Anstieg an Anträgen im Jahr 2015 erfahren hat (siehe Grafik).
Zudem sind die Unterschiede im Hinblick auf die Herkunftsländer der MigrantInnen bemerkenswert. So machten in Deutschland, Österreich oder Schweden vor allem Menschen aus Syrien und Afghanistan die größte Gruppe an MigrantInnen aus. In Ländern wie Polen oder Tschechien kam die größte Gruppe hingegen aus Russland, der Ukraine oder anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die Zahlen der MigrantInnen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in die beiden Visegrád-Staaten fallen aber in 2015 und 2016 deutlich geringer aus. Dies ist einerseits kaum auf dem öffentlichen Radar in Westeuropa, anderseits verweisen verschiedene PolitikerInnen aus Zentral-und Osteuropa immer wieder darauf, wenn es darum geht die eigene Position, sprich die Ablehnung von Asylsuchenden, zu rechtfertigen.
Die folgende Grafik verdeutlicht den prozentualen Anteil von Ausländern in den jeweiligen Ländern. Stichtag war der 1. Jänner 2016.
Neben der hohen Anzahl an EU-BürgerInnen in Luxemburg, ist auffallend, dass die beiden baltischen Republiken Estland und Lettland einen hohen Anteil an nicht EU-BürgerInnen aufweisen. Dieser erklärt sich durch die relativ große Anzahl der russischen Minderheit, bzw. Menschen aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, die vor dem Ende der Sowjetunion dorthin migriert sind. Österreich liegt auf Platz fünf mit einem Anteil von rund sieben Prozent an EU-BürgerInnen und einer ähnlichen Anzahl an Nicht-EU-BürgerInnen. Am Ende der Reihung befinden sich die vier Visegrád-Staaten (Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn), Kroatien, Bulgarien, Rumänien und Litauen. Die zentral- und osteuropäischen Staaten sind somit nicht nur weniger von der erhöhten Migrationsbewegung seit 2015 betroffen, die Länder sind zumindest auf dem Papier in puncto Staatsbürgerschaft auch deutlich homogener.
Die Einstellungen der Bevölkerung
Im folgenden Teil sollen die Einstellungen der europäischen Bevölkerung im Mittelpunkt stehen. Basierend auf den halbjährlich durchgeführten Eurobarometerumfragen, zeigt die folgende Grafik wie das Thema Migration seit Frühjahr 2015 das Hauptanliegen der Bevölkerung auf der europäischen Ebene ist und somit ökonomische Sorgen abgelöst hat.
Dies trifft in ähnlichem Maße auf fast alle europäischen Mitgliedsstaaten zu. Auch Staaten wie Tschechien, die kaum von der Migrationsbewegung betroffen sind, zeigen ein ähnliches Muster, wenn es um die Hauptanliegen der Bevölkerung auf nationaler Ebene geht.
Das Thema Migration wurde somit in den meisten west- und osteuropäischen Ländern zum zentralen Thema in öffentlichen Debatten. Ein großer Unterschied zwischen ost-und westeuropäischen Mitgliedszahlen zeigt sich allerdings, wenn es um die Einstellung zu Migration aus anderen EU-Mitgliedsstaaten oder dem außereuropäischen Ausland geht.
Die positivste Einstellung zu Migration zeigt sich in Schweden mit einer durchschnittlichen Zustimmung von über 80 Prozent. Dahinter folgen Deutschland und Polen. Österreich liegt in etwa auf dem Durchschnitt der 28 Mitgliedsstaaten. Unter dem EU-Durchschnitt liegen die drei Visegrád-Staaten Slowakei, Tschechien und Ungarn.
Deutlich negativer wird die Migration von Nicht-EU-BürgerInnen bewertet. Auch hier ist Schweden erneut das Land, dass mit 70 Prozent eine überwiegend positive Einstellung dazu hat. Deutschland und Österreich liegen nah beim EU Durchschnitt von rund 35 Prozent Zustimmung. Seit Herbst 2015 liegen die vier Visegrád-Staaten deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Insbesondere sind dabei die Slowakei, Tschechien und Ungarn zu nennen, in denen 2016 nicht mal ein Fünftel der Bevölkerung eine positive Einstellung zu dieser Thematik aufweist.[i]
Erklärungen des Unterschieds zwischen Ost- und Westeuropa
Jenseits von generellen Trends wie dem Erstarken des Nationalismus, den Stimmengewinnen von rechtspopulistischen Parteien oder den immer noch nicht überwundenen Effekten der Finanz- und Wirtschaftskrise, stellt sich die Frage warum die Bevölkerung in Zentral- und Osteuropa deutlich negativer dem Thema Migration eingestellt ist. Die Region unterscheidet sich dabei in verschiedenen Aspekten von den westeuropäischen Mitgliedsstaaten. Diese sollen abschließend ausgeführt werden.
Migrationserfahrung vor und nach 1989
Der Unterschied ist unter anderem in den unterschiedlichen Migrationserfahrungen vor und nach 1989 begründet. Die wohlhabenderen westeuropäischen Mitgliedsstaaten hatten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg durch den geförderten Zuzug der GastarbeiterInnen Erfahrungen gemacht. Des Weiteren wurden auch Menschen aus Zentral- und Osteuropa aufgenommen, beispielsweise nach dem Ungarnaufstand 1956 oder während des Jugoslawienkriegs. Auch wenn diese Menschen nicht nur positiv aufgenommen wurden, so bestehen zumindest gewisse Erfahrungen mit der Integration von Menschen aus anderen Ländern. Dies ist in diesem Ausmaß in den vergleichsweise geschlossenen Gesellschaften in den damals sozialistischen Ländern nicht der Fall.
Zudem unterscheiden sich die osteuropäischen Mitgliedsländer nach 1989 vor allem darin, dass sie jeweils rund zehn Prozent ihrer Bevölkerung verloren haben. Diese Menschen migrierten vor allem nach Westeuropa oder Nordamerika. Auch in der aktuellen Migrationsbewegung seit 2015 waren die östlichen Mitgliedsländer deutlich weniger betroffen. Somit fehlen diesen Gesellschaften Erfahrungen mit dem Umgang von Einwanderung. Auch, wenn es relativ wenige Asylanträge in diesen Ländern gibt, abgesehen von Ungarn 2015, so scheint aufgrund der relativ abgeschotteten Zeit vor 1989 als auch nach 1989 die Ablehnung von MigrantInnen aus dem außereuropäischen Ausland mit der geringen Erfahrung und den damit verbundenen Ängsten zusammenzuhängen.
Die Folgen der Transformation nach 1989
Ein weiterer Grund für die Ablehnung liegt in den Erfahrungen der Bevölkerung nach 1989, zu Zeiten der allumfassenden Transformation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, begründet. Insbesondere die Transformation von Plan- zu Marktwirtschaft führte dazu, dass viele Teile der Bevölkerung kaum von dem langsam anlaufenden Wirtschaftswachstum in den 1990er Jahre profitiert haben. So spricht der Politikwissenschaftler Goran Musić davon, dass in die „zwei Dekaden neoliberaler Reformen daran gescheitert wären die ehemaligen staatssozialistischen Gesellschaften zu modernisieren“.[ii] Vor allem die größtenteils ungleiche Verteilung des ehemaligen Staatseigentums, die Erosion des Wohlfahrtstaats sowie die vor allem seit der Wirtschaftskrise 2008 angewandte Austeritätspolitik führten zu realen und subjektiven Verlusten in großen Teilen der Bevölkerung.
Zudem ist das Wirtschaftswachstum in der Region immer noch sehr stark von ausländischen Direktinvestitionen aus Westeuropa und Nordamerika, zunehmend auch China und dem Mittleren Osten abhängig.[iii] Um wettbewerbsfähig zu sein, wurden oft soziale Standards zu Lasten der Bevölkerung reduziert. Insofern waren die Erfahrungen mit Umverteilungspolitik und in gewissem Sinne mit gesellschaftlicher Solidarität sehr begrenzt. Dem kommt noch hinzu, dass generell Themen des linken Spektrums wie Solidarität auch aufgrund der immer noch sehr stark vorhanden anti-kommunistischen Einstellungen marginalisiert sind. Es gibt zwar aktive Sozialpolitik in Ländern wie Polen oder Ungarn, diese wird allerding eher als teil eine nationalen Projekts beworben, dass dezidiert nur die BürgerInnen des Landes einschließt.
Dem hinzukommend gibt es, wie vermehrt in Westeuropa, eine Vielzahl an rechtspopulistischen Parteien, die gegen die Elite, das Establishment und Minderheiten, z.B. Muslime, Roma und Asylsuchende, hetzen. Nachdem in verschiedenen zentral- und osteuropäischen Ländern diese Parteien auch in Regierungsverantwortung stehen, ist der Ton in öffentlichen Debatten und auch das gesellschaftliche Klima im Hinblick auf das Thema Minderheiten deutlich härter. Das Wort „Flüchtling“ wird als Synonym für „Islamist“ verwendet und mitunter werden mit dieser Thematik im Wahlkampf auch Ängste bewusst geschürt.[iv] Der Unterschied zu Westeuropa ist hierbei aber, dass derartige Äußerungen von Mainstreamparteien und nicht wie in den vielen westeuropäischen Ländern von kleineren Parteien stammen. Dies ließ sich beispielsweise im vergangenen Wahlkampf in der Slowakei oder auch in Ungarn beobachten.
Fazit
Ist der Westen Europas nun solidarischer und der Osten vorwiegend ablehnend? Diese Frage lässt sich inzwischen sowohl auf der politischen als auch der gesellschaftlichen Ebene nicht mehr so einfach beantworten. Die meisten PolitikerInnen in Zentral- und Osteuropa, allen voran Viktor Orbán mit seinem letzten Endes gescheiterten Referendum gegen die EU-Flüchtlingsumverteilung, haben sich schon früh besonders ablehnend gegenüber der Aufnahme von Asylsuchenden gezeigt. Gleichzeitig haben aber auch die westeuropäischen Regierungen, beeinflusst vom Erfolg rechtspopulistischer Parteien, den Kurs gewechselt. Am Beispiel Österreichs lässt sich dies gut verdeutlichen. Die österreichische Regierung um Kanzler Kern fordert einerseits mehr Solidarität von den östlichen Nachbarn ein, anderseits wurde die Aufnahme 50 minderjähriger Flüchtlinge aus Italien lange Zeit verwehrt.
Auch im Hinblick auf die Einstellungen der Bevölkerung zeigt sich ein Bild in dem die Bevölkerung in den meisten zentral-und osteuropäischen Staaten der Migration aus dem Nicht-EU-Ausland deutlich negativer eingestellt ist. Dies liegt einerseits in der Zeit vor 1989 und dem damals relativ geschlossenen Gesellschaften, der geringen Erfahrung als Aufnahmegesellschaft und der von wenig Solidarität geprägten Zeit nach 1989 begründet. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in Osteuropa eine Vielzahl an Initianten der Zivilgesellschaft gibt, die sich in verschiedenen Formen um die Asylsuchenden gekümmert haben oder für deren Rechte eintreten. Insofern lohnt es sich, konkreter mit den deutlich heterogeneren Ländern in Zentral- und Osteuropa zu beschäftigen.
[i] Ähnliche Zahlen zeigen sich übrigens auch für die anderen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten im Herbst 2016: Bulgarien 15 Prozent, Estland 14 Prozent, Lettland 14 Prozent, Litauen 26 Prozent, Slowenien 28 Prozent. Nur Rumänien (35 Prozent) und Kroatien (41 Prozent) lagen nah dem EU-Durschnitt, bzw. sogar etwas darüber.
[ii] Musić, G. (2013). Between Facebook and the Picket Line: Street Protests, Labour Strikes and the New Left in the Balkans. Journal of Contemporary Central and Eastern Europe, 21(2-3), 321-335.
[iii] Myant, M., & Drahokoupil, J. (2013). Transition Economies after the Crisis of 2008: Actors and Policies. Europe-Asia Studies, 65(3), 373-382.
Nölke, A., & Vliegenthart, A. (2009). Enlarging the Varieties of Capitalism: The Emergence of Dependent Market Economies in East Central Europe. World Politics, 61(04), 670-702.
[iv] Siehe dazu: Schmidt, H.-J. (2015). Die Visegrád-Staaten und die europäische Flüchtlingspolitik. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 65(47-48), 38-41.