Russisch als Minderheitensprache? Das neue Bildungsgesetz der Ukraine heizt den politischen Konflikt an
Der rumänische Präsident Iohannis sagte seinen Besuch in der Ukraine im Oktober ab, nachdem sein ukrainischer Amtskollege Poroschenko erklärt hatte, dass er das Gesetz über die Sprachenausbildung in den ukrainischen Schulen in Kraft setzen würde[i]. 400 Tsd. Rumänisch sprechende UkrainerInnen würden dadurch benachteiligt. Poroschenko hat inzwischen unterschrieben. Auch die ungarische Regierung hatte deutlich protestiert. Außenminister Peter Szijjarto bekräftige die schon früher geäußerte Absicht, dass seine Regierung die ukrainischen diplomatischen Initiativen überall wo möglich blockieren wird, um gegen die Diskriminierung der ungarisch sprechenden UkrainerInnen (es sind ca. 140 Tsd.) zu protestieren[ii]. Andere Regierungen, auch die moldawische, die polnische und die russische, haben gleichermaßen protestiert. Das Gesetz regelt den Unterricht in den Minderheitensprachen des Landes neu. Die ukrainische Sprache soll gestärkt werden. Die Minderheitensprachen werden weiter unterrichtet, aber ihre Nutzung im Unterricht soll deutlich reduziert werden. Es geht bei dem Gesetz aber in Wirklichkeit nicht um eine kleine Zahl von UkrainerInnen, wie der Begriff „Minderheit“ nahelegt.
Das eigentliche Problem für den inneren Frieden besteht in den Festlegungen zu den Sprachen der anderen BürgerInnen als denen, die Ukrainisch sprechen. Der Gebrauch von Ukrainisch soll zu Lasten anderer Sprachen gestärkt werden. In den ersten vier Schuljahren darf in den Minderheitengebieten weiterhin umfangreich in der eigenen Muttersprache unterrichtet werden. Ab der fünften Klassenstufe jedoch wird das bisherige Verhältnis zwischen Muttersprache der Angehörigen der Minderheit und Ukrainisch umgekehrt: bisher, so erläuterte die ukrainische Bildungsministerin im Juli, würde fast alles in der Muttersprache unterrichtet und dazu käme noch ein bisschen Unterricht des Ukrainischen. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes muss die Mehrheit der Fächer auf Ukrainisch gelehrt werden[iii]. Dagegen richten sich die Proteste der ungarischen und rumänischen PolitikerInnen. Die Situation der Russisch sprechenden SchülerInnen wird jedoch noch zusätzlich dadurch verschlechtert, dass eine mögliche Erweiterung des Unterrichts in einer der Minderheitensprachen, die in einem EU-Mitgliedsland gesprochen wird, für diese Sprache natürlich nicht möglich ist. Russisch kann dann nur noch als eine Fremdsprache oder im Fach russische Literatur unterrichtet werden[iv]. Aber auch in jenen Fächern müssen von nun an die LehrerInnen ihre Instruktionen nur noch auf Ukrainisch geben.
Natürlich gibt es auch Argumente, die für diese Veränderung sprechen: Ukrainisch ist Staatssprache, die „Minderheitensprachen“ sind dort regionale Verkehrssprache, wo in den jeweiligen Gebieten mehr als 10 Prozent der UkrainerInnen sich als „UngarInnen“, „RumänInnen“ oder „RussInnen“ deklarieren. Das sind Gebiete im Osten, Süden und Südwesten des Landes. Mit dem neuen Schulgesetz wird aber der Gebrauch jener regionalen Verkehrssprachen erschwert. Das Gesetz ist faktisch die Verwirklichung einer Absicht, die schon in den ersten Tagen nach dem Sturz von Janukowitsch, des 2010 gewählten Präsidenten, durch die „Revolution der Würde“ – dem zweiten Maidan – verkündet wurde. Im Parlament wurde ein Gesetz eingebracht, dass jenes Gesetz von 2012 für die Einführung von regionalen zweiten Staatssprachen aufheben sollte. Dieses Gesetz wurde damals durch den amtierenden Präsidenten angesichts deutlicher internationaler Proteste nicht in Kraft gesetzt. Jetzt aber wurde faktisch seine Zurücknahme beschlossen[v].
Das Problem ist allerdings größer als bisher weitgehend wahrgenommen. Russisch ist keineswegs die Sprache einer kleinen Minderheit der ukrainischen Bevölkerung und es wird ist nicht nur regional begrenzt gesprochen. Zwar haben sich bei der Volkszählung 2001 nur 17 Prozent der Bevölkerung zu ethnischen RussInnen erklärt, aber es sprechen bedeutend größere Gruppen der Bevölkerung in ihren Familien und im Alltag Russisch. Die entsprechenden Zahlen aus Untersuchungen ukrainischer Institute lauten wie folgt: In derselben Volksbefragung gaben 34 Prozent der Befragten an, in ihrer Alltagskommunikation Russisch zu verwenden, 64 Prozent hingegen Ukrainisch. In genaueren Untersuchungen wurde 1994 festgestellt, dass 37 Prozent nur russisch, 33 Prozent nur ukrainisch und 29 Prozent beide Sprachen gleichermaßen nutzen. Bis 2008 hatte sich das Verhältnis etwas zugunsten der Staatssprache geändert, aber nicht grundlegend gewandelt. Nun waren die entsprechenden Zahlen: 31, 45 und 25 Prozent[vi]. Damit ist klar, dass russisch im Durchschnitt des Landes in etwa von der Hälfte der Bevölkerung aktiv verwendet wird, nur etwas weniger häufig als ukrainisch.
Das Unterrichtsgesetz ist ein von den ukrainischen NationalistInnen initiierter Versuch, die Heterogenität der ukrainischen Gesellschaft zugunsten einer ukrainischen Nationalisierung aufzuheben. Diese Art von nationalistischem Bemühen findet sich überall im postsozialistischen Osteuropa, wo neue Nationalstaaten gegen den Willen von Minderheiten durchgesetzt werden. So wurde etwa aus Serbokroatisch Serbisch und Kroatisch. Wobei in diesem Fall die Sprachen sich sehr viel ähnlicher als Russisch und Ukrainisch sind. Aber das Bemühen, sich vom anderen abzugrenzen, war genauso heftig. Im Fall der Ukraine besteht der Unterschied nicht darin, dass sich das Land mit dem staatlichen Träger der anderen Sprache im nichterklärten Krieg befindet (Serbien stand auch im Krieg mit Kroatien und umgekehrt). Die Besonderheit im Vergleich mit den postjugoslawischen Fällen besteht eher darin, dass russisch in einigen Teilen der Ukraine die mehrheitlich verwendete Alltagssprache ist und insgesamt jedenfalls keine Sprache einer kleinen Minderheit. Mit staatlicher Gewalt jedenfalls lässt sich „das Problem“ nicht klären. Nachdem der Empfang russischer Sender verboten und der Gebrauch des Russischen auch in den ukrainischen Medien eingeschränkt wurde, versucht das neue Bildungsgesetz mittelfristig diese Sprache ganz aus dem Alltag zu streichen. Es ist absehbar, dass diesen Bemühungen kein Erfolg beschieden sein kann.
Das Sprachengesetz ist Teil eines Bemühens der ukrainischen NationalistInnen die Spuren der historischen Zugehörigkeit des Landes zu Russland aufzuheben. Sie stoßen sich dabei insbesondere an der Tatsache, dass die heutige Ukraine nur zu verstehen ist, wenn man sie als Teil des sowjetischen Modernisierungsprozesses fasst. Ihre Grenzen (inklusive der eingeklagten Krim) sind einzig und allein nur in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zur Sowjetunion so wie heute gezogen gewesen. Die Migrationsbewegungen im Zusammenhang mit der sowjetischen Industrialisierung haben das Land tief geprägt und auch die gegenwärtige ethnische Heterogenität erzeugt. Die Identität vieler älterer UkrainerInnen ist ebenfalls in dieser Zeit geprägt worden. Das mag man bedauern, durch Ignoranz kann man es allerdings nicht ändern.
Das Bildungsgesetz wird zur inneren Aussöhnung der ukrainischen Gesellschaft sicher nicht beitragen, es wird diese erschweren. Eine Förderung von Zwei- oder Dreisprachigkeit hätte dem „europäischen Anspruch“ der Ukraine besser entsprochen als jener Versuch einer brachialen Förderung der einen und einzigen Staatssprache.
[i] Siehe den Beitrag auf der Homepage von RFE/RL vom 22.9.2017, https://www.rferl.org/a/ukraine-romania-president-cancels-visit-over-language-law/28751116.html (Zugriff am 04.10.2017)
[ii] So im Beitrag derselben Sender am 26. September, einen Tag, nachdem der ukrainische Präsident das Gesetz durch seine Unterschrift in Kraft gesetzt hatte. Siehe: https://www.rferl.org/a/ukraine-hungary-language-law-eu-pain/28758760.html (Zugriff am 04.10.2017)
[iii] So im Beitrag in der „Ukrainskaja Prawda“ online vom 3. Juli 2017: Гриневич говорит, что “языковой бомбы” в новом законе “Об образовании» нет, dt.: Grinjewitsch sagt, dass es im neuen Gesetz „Über die Bildung“ keine „Sprachbombe“ gibt
[iv] Siehe die Ausführungen der Bildungsministerin während der abschließenden Lesung des Gesetzes im ukrainischen Parlament Anfang September (in einem Artikel der „Ukrainskaja Prawda“ online am 5.9.2017: „Переход в другую школу: Рада приняла закон “Об образовании“ – dt.: Übergang in eine andere Schule: Das Parlament nahm das Gesetz ‚Über die Bildung‘ an.
[v] „The bill would overturn a 2012 law passed under Moscow friendly president Victor Janykovich […] That legislation allowed for minorities to introduce their language in regions were they presented more than 10 percent of the population”, so erläuterte Tony Wesolowsky die Situation in einem Bericht des schon zitierten Senders RFE/RL am 24.9.2017, https://www.rferl.org/a/ukraine-language-legislation-minority-languages-russia-hungary-romania/28753925.html (Zugriff am 04.10.2017)
[vi] Angaben aus einer Analyse des Razumkov Institutes in „Ukraine Analysen“ Nr. 152, S. 15.
Titelbild: Zweisprachiges Ortsschild von Ust-Tschorna/Königsfeld in der Westukraine.