Chemnitz: Konfrontationen am „Nüschel“
Seit zwei Wochen gibt es Demonstrationen und Gegendemonstrationen in der sächsischen Stadt Chemnitz. Die DemonstrantInnen marschieren durch das Stadtzentrum und treffen am „Nüschel“, dem Denkmal in Form eines Karl-Marx-Kopfes („Kopf“ heißt in der sächsischen Koseform: „Nüschel“), im Stadtzentrum aufeinander. Chemnitz hieß übrigens in der DDR zwischen 1953 und 1990 Karl-Marx-Stadt, deshalb hat dieses Denkmal auch eine zentrale Bedeutung für die Identität der BewohnerInnen der Stadt.
Auslöser der Proteste war die Ermordung eines deutschen Staatsbürgers, der einen kubanischen Gastarbeiter als Vater hat, am Rande eines Stadtfestes. Zwei seiner Begleiter wurden ebenfalls verletzt. Zwei Geflüchtete aus dem Irak und Syrien wurden als Tatverdächtige umgehend verhaftet.
Die erfolgreiche Mobilisierung der extremen Rechten
Das Ausmaß und die Intensität der folgenden Proteste gegen die Migrationspolitik der deutschen Regierung lässt sicher aber selbstverständlich nicht nur mit der Ermordung erklären. Die Tat wurde von rechten politischen Kräften erfolgreich ausgenutzt, um für ihre politische Position zu mobilisieren. Die Demonstrationen am 27.August 2018 und am ersten Septemberwochenende mit bis zu 5 000 Teilnehmenden zeigen, wie erfolgreich diese Mobilisierung war. Neben den organisierten rechtsextremen Kräften, einer rechten BürgerInnenbewegung, „Pro Chemnitz“, die auch im Stadtparlament vertreten ist, sowie der AfD Sachsen und Thüringen, nahmen auch rechtsextreme Kräfte aus ganz Deutschland teil.
In den letzten Tagen wurde zudem in der medialen Berichterstattung vermehrt über die „anderen“ Teilnehmenden aus Chemnitz und aus anderen Teilen des Landes, die mit der organisierten Rechten marschieren, diskutiert. Der folgende Kommentar handelt vorwiegend von der Deutung der Anziehungskraft rechter Parteien und Parolen in Ostdeutschland auf eine sehr große Gruppe in der Bevölkerung. Von allen anderen Aspekten, auch davon, dass viele ChemnitzerInnen an den Gegendemonstrationen, wie beispielsweise der unter der Losung „Herz statt Hetze“ oder dem #Wirsindmehr-Konzert teilnehmen, werde ich hier absehen.
Eine ostdeutsche Besonderheit?
Die Mobilisierung durch rechte Gruppen basiert auf der Angst vor Fremden vieler Ostdeutscher. Diese kommt angesichts des Mordes an einem Mitbürger nur an die Oberfläche, sie ist aber nicht durch solche konkreten Verbrechen entstanden. Sie konnte entstehen, so sagte Gregor Gysi (die Linke) vor einigen Tagen in einem Interview der „Frankfurter Rundschau“ [1], weil in der DDR als „geschlossener Gesellschaft“ insbesondere MuslimInnen einfach nicht vorkamen. Gysi erwähnt danach die Transformationstraumata, den schnellen Sturz in die ganz andere Gesellschaft mit drohender Arbeitslosigkeit und andere sozial erzeugte Unsicherheiten, als einen weiteren allgemeinen Grund der Xenophobie. Die Massenmigration erzeuge Ängste davor, dass die Versorgung der Ankömmlinge die eigene Lage verschlechtern könnte, etwa dadurch, dass gering Qualifizierte vom Arbeitsmarkt verdrängt werden.
Rechtspopulisten haben auch in anderen Regionen Deutschlands seit der Migrationskrise einen größeren Einfluss gewonnen. Hier spielt die gesellschaftliche Desintegration eine Rolle, die durch die Art der Globalisierung und den Wechsel des Kapitalismusmodells seit den späten 1970er Jahren erzeugt worden ist. Die Massenmigration des Jahres 2015 hat die im gesellschaftlichen Wandlungsprozess entstanden Ängste nur noch einmal extrem mobilisiert.
Ein Blick zu den osteuropäischen Nachbarn
Derartige Erfahrungen haben nicht nur die BürgerInnen in Ostdeutschland gemacht, sondern beispielsweise auch jene im benachbarten Tschechien. Auch dort tritt zunehmende Angst vor Fremden, vor allem Muslimen, verbreitet auf. Auch gibt es in Tschechien einige bemerkenswerte Akteure für die Islamophobie: die Partei „Partei für Freiheit und direkte Demokratie“ (tschechische Abkürzung: SPD) erhielt bei den letzten Wahlen im Oktober 2017 als drittstärkste Kraft 11 Prozent der Stimmen. Hier bilden sich zudem Bürgerwehren, die das Ziel haben, das Land gegen eine hypothetische muslimische Invasion auch mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Die Zahl ihrer Mitglieder wird auf 2000 geschätzt.[2] Zudem gibt es noch den Staatspräsidenten, Miloš Zeman, der ebenfalls lautstark gegen die ‚muslimische Gefahr‘ protestiert. Selbst der pragmatisch-populistische Ministerpräsident Andrej Babiš ist angesichts der öffentlichen Meinung Teil der Antimigrationsfront der Visegrád-Staaten.
Jedes Land hat dabei spezifische Ausdrucksformen jener Angst und spezifische AkteurInnen. In Ungarn etwa macht die Regierung gegen einen ausgedachten „Plan Soros“ mobil. Der aus Ungarn stammende US-amerikanische Milliardär wird verdächtigt, eine Invasion von MigrantInnen zu organisieren, um das christliche Abendland zu zerstören. Dabei lassen sich antisemitische Untertöne nicht überhören. Auch in den anderen drei Visegrád-Staaten ist die Gefahr einer muslimischen Überfremdung eher konstruiert, und bis auf Polen gibt es auch keine starke christlich-religiöse Orientierung in den Bevölkerungen. Trotzdem ist diese wabernde Islamophobie beobachtbar.
Das Argument von Gregor Gysi, dass die in Ostdeutschland größere Mobilisierungskraft der AfD und lokaler rechtsextremer Organisationen, wie der Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“, im Transformationstrauma der Bevölkerung wurzelt, scheint also eine gewisse Plausibilität aufzuweisen. Ostdeutschland ist hierin den anderen Transformationsgesellschaften Ostmitteleuropas ähnlich. Politisch lässt sich folgendes beobachten: die Bevölkerungen aller vier Visegrád-Länder betrachten die Immigration gegenwärtig deutlich stärker als wichtiges Problem der EU, bis zu 20 Prozent mehr sind dieser Meinung im Vergleich zum EU-Durchschnitt.[3] Dasselbe gilt – wenn auch etwas schwächer – für die Wahrnehmung der Terrorgefahr. Dazu kommen reale politische Defizite. In den letzten Jahren sind überall entweder die etablierten Parteiensysteme schwächer geworden und zugleich populistische Parteien aufgestiegen oder etablierte Parteien haben sich zu populistischen gewandelt. Die repräsentative Demokratie erlebt in diesen Staaten eine Krise, das Vertrauen in ihre Institutionen – Parteien, Parlamente, Regierungen – ist niedrig.
Man könnte also zusammenfassen, die Angst vor Fremden geht einher mit einem wachsenden Einfluss von populistischen Parteien und erfolgt vor dem Hintergrund einer Krise der repräsentativen Demokratie. In Deutschland ist letztere weniger ausgeprägt, da Ostdeutschland in das stabilere deutsche politische System eingebettet ist. Dennoch existieren Parallelen zur Situation der ostmitteleuropäischen Visegrád-Staaten. Eine ostdeutsche Besonderheit ist das Gefühl, deutsche BürgerInnen zweiter Klasse zu sein, nicht in demselben Maße anerkannt zu werden wie die BürgerInnen in den Ländern der früheren Bundesrepublik.[4]
Die gesellschaftlichen Reaktionen auf den Mord in Chemnitz sind ein Anzeichen für eine tiefergehende gesellschaftliche Krise. Sie sind insofern auch nicht dadurch zu überwinden, dass es zu einer schnellen Mobilisierung der Zivilgesellschaft kommt, die Politik schnell auf das Verbrechen reagiert oder aber die staatlichen Sicherheitsorgane ein angemessenes Verhalten an den Tag legen. Es ist deutlich mehr nötig, damit die Demokratie wieder auf festem Grund steht. Wahrscheinlich müsste es auch eine geänderte Sozialpolitik geben, damit die Ostdeutschen ihren „Nüschel“ von rechtsextremen Gruppierungen abwenden.
[1] Interview mit Gregor Gysi in der FR vom 31.8.2018, http://www.fr.de/politik/gregor-gysi-afd-macht-fluechtlinge-zu-hauptschuldigen-a-1573573 (aufgerufen am 3.9.)
[2] Siehe Radio Prag Newsletter vom 2.9.2018, Radio Prague Newsletter robot@radio.cz (aufgerufen am 3.9.2018)
[3] Siehe dazu die Angaben des aktuellen Eurobarometers (EB89), Annex, S. T 31 und T31.
[4] Siehe dazu das 7. Kapitel meines Buches „Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR“, in dem ich dieses Phänomen in seiner Entstehung beschrieben haben.
Weiteres zum Thema:
https://ostpol.de/beitrag/5223-das-laute-schweigen-im-osten