Wirklich geschlossen? Zur Lage der Migration über die Balkanroute
Die sogenannte „Balkanroute“ wurde im April 2016 geschlossen – allerdings nur politisch. Bosnien und Herzegowina erlebte in den letzten Monaten einen schnellen Anstieg an aus ihren Heimatländern geflüchteten Menschen, die hier gestoppt wurden. Warum stecken plötzlich rund 5000 Menschen in hoffnungslosen Bedingungen fest, obwohl in Serbien eine solide, von der EU finanzierte Versorgung bereit steht? Die Antworten sind in den lokalen Gegebenheiten und den beiden zentralen Krisenorten Bosniens – die zwei nahe an der bosnisch-kroatischen Grenze liegenden Städte Bihać und Velika Kladuša – zu suchen.
Bosnien im Fokus
Seit April 2018 haben internationale und nationale Medien das Thema der Balkanroute wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Dieses Mal dreht es sich aber nicht um die Situation in Serbien, Ungarn oder Kroatien, sondern vielmehr um die Lage in Bosnien – genauer gesagt um den Nordwesten des Landes. Bis vor kurzem war das Land weder von der großen Migrationsbewegung seit 2015, noch von Schleppernetzwerken besonders betroffen. Bosnien wurde erst 2018 attraktiver, nachdem andere Routen in die EU schwieriger zu passieren waren. Die angespannte politische Situation in Bosnien war von großem Vorteil, wenn es darum ging, direkte Verantwortlichkeiten des Staates zu vermeiden. Seitdem haben die beiden Grenzstädte Bihać und Velika Kladuša einen massiven Zuwachs an MigrantInnen erlebt.
Gründe für die Krise in Bosnien und Herzegowina
Die aktuelle Krise in Bihać ist aus verschiedenen Gründen entstanden. Die Nähe zur kroatischen EU-Außengrenze, das relativ zugängliche Gelände und somit die Aussicht auf eine baldige Ankunft in der EU macht die Stadt als Zwischenstation attraktiv. Aktuell ist es der einfachste Weg in die EU, und weiter in den Schengenraum. Zudem werden illegale Aktivitäten wie Menschenhandel in der Region um Bihać nicht konsequent verfolgt. Die Rechtsstaatlichkeit ist hier nicht besonders stark ausgebaut. Die illegalen Aktivitäten gehen Hand in Hand mit schmutzigen politischen Machtspielen im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen, die in Bosnien und Herzegowina in Oktober 2018 stattfanden. Die Krise war ein willkommenes Thema, um wachsende Spannungen zwischen beiden Entitäten zu vergrößern[i], aber ohne wesentliches Interesse, etwas an der Situation zu ändern. Die MigrantInnen in Bihać haben sehr geringe Chancen legal in die EU zu kommen, um dort einen Asylantrag zu stellen, was dem Geschäft von Schleppern zu Gute kommt.
Die Kantonsregierung, sowie kommunale Behörden in Bihać und Velika Kladuša haben nur sehr beschränkte materielle und finanzielle Ressourcen, um die Grundbedürfnisse der MigrantInnen zu sichern. Gleichzeitig erweisen sich der Staat und seine Institutionen als unfähig, eine adäquate Unterstützung für beide Städte zu gewährleisten. Die ExpertInnen, die mit den MigrantInnen in Bihać und Sarajewo arbeiten, haben darauf hingewiesen, dass die Mittel vom Staat, welche die Grundbedürfnisse für in Bosnien ankommende Menschen sichern sollen, langfristig fehlen.
Eine koordinierte Politik gegenüber MigrantInnen in Bosnien erscheint aktuell nahezu unmöglich. Im politischen System Bosniens gibt mindestens drei unterschiedliche Kompetenzebenen, was dazu führt, dass sich keine Institution zuständig fühlt. Im Falle Bosniens muss man die Staatsebene, die Regierung der zwei Entitäten und den unabhängigen Entscheidungsfindungsprozess auf lokaler Ebene berücksichtigen. Die Kantonspolizei in Bihać kann sich zum Beispiel nur mit kleineren Delikten in Verbindung mit MigrantInnen beschäftigen, hat jedoch keine Kompetenzen, die Schlepperei oder den Schwarzhandel zu untersuchen[ii]. Diese Kompetenzen wiederum haben nur die Institutionen auf der staatlichen Ebene. Nichtsdestotrotz hat die Polizei auf staatlicher Ebene nicht genug Ressourcen, um ein so komplexes und geografisch entferntes Problem zu untersuchen. Die Krise hat nicht zuletzt eine erhebliche politische Spannung zwischen beiden Entitäten geschaffen. Der Präsident der RS, Milodar Dodik, schon im Mai 2018 behauptet, dass der Zustrom von MigrantInnen eine ethnische Bedrohung darstellen kann, und benutzt dabei Wörter wie „Existenzbedrohung“.
Die inzwischen angespannte Atmosphäre in Bihać erlebte eine turbulente Entwicklung, aus der manche einen Vorteil ziehen wollen. Während lokale Behörden noch versuchen, sich zu orientieren und herauszufinden, wie man überhaupt in diese Lage gekommen ist, hat die organisierte Kriminalität den Vorteil aus der kurzen geografischen Distanz zur EU erkannt. Das mangelnde Interesse in Sarajevo, die Spannungen zwischen den Entitäten, das geringe Interesse der EU-Länder und der EU allgemein, haben zur Krise in Bihać und Velika Kladuša geführt. Darüber hinaus verhindert die künstliche Spannung zwischen den Entitäten, dass in der Öffentlichkeit Fragen bezüglich der Zuständigkeiten der Behörden überhaupt verhandelt werden.
Wie sieht die Realität vor Ort aus?
Einerseits gibt es hier echte Solidarität der Einheimischen gegenüber den in Not geratenen Menschen, was die hoffnungslose Lage der MigrantInnen im Vorhof der Europäischen Union jedoch nur bedingt verbessern kann – denn nur die wichtigsten Bedürfnisse wie Nahrung, erste Hilfe und ein Dach über dem Kopf sind erfüllt. Andererseits haben illegale wirtschaftliche Aktivitäten seit dem Beginn der lokalen Krise im April 2018 sowohl in Bihać, als auch in Valika Kladuša einen blühenden Aufschwung genommen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Weiterreise nach Deutschland (häufigster Zielort) nur eine Frage des Geldes ist, unabhängig von den verstärkten Grenzsicherungen. Die Besitzer kleiner Hotels und anderer Grundstücke haben nicht gezögert, ihre Anlagen verschiedenen kriminellen Gruppen zur Verfügung zu stellen, die zum Beispiel Schlepperei betreiben. Dies geht so weit, dass man in einer Unterkunft, welche man über booking.com gebucht hat, sich plötzlich gemeinsam mit diesen kriminellen Gruppen wiederfindet.
Nach Einschätzungen der NGOs, die den MigrantInnen helfen, sind zwischen 70 und 80% der MigrantInnen über Serbien in den bosnischen Kanton Una-Sana gekommen. Mehr als die Hälfte dieser Leute geben an, dass Pakistan ihr Herkunftsland ist. Auch Menschen aus Afghanistan, Irak, Iran und Marokko sind vor Ort. In vielen Fällen kommen sie aus den von serbischen Behörden betriebenen „One Stop Centres“, wo ihnen Lebensmittel, eine Unterkunft und Bildungsmöglichkeiten für Kinder bereitgestellt wird. Dies sind wichtige Einrichtungen zur Unterstützung der Menschen, die in Serbien bleiben, wenn es um Erfüllung grundlegender Hilfe geht. Diese Zentren werden durch die finanzielle Unterstützung der Europäischen Kommission betrieben. Auch gibt es hier Personen (MigrantInnen), die schon im Herbst 2017 in Belgrad und jetzt in Bihać lokalen Behörden und NGOs bei Übersetzungsarbeiten für Menschen, hauptsächlich aus Pakistan, helfen.
Die EU in der Verantwortung
Es wäre sehr naiv zu denken, dass sich sowohl die EU, als auch die EU-Länder der Situation in Bosnien, insbesondere in Bihać, nicht bewusst sind. Seitdem die „Balkanroute“ politisch geschlossen wurde, wird der Situation in diesem Gebiet und jenen, die daraus Profit schlagen, wenig Beachtung geschenkt. Mit anderen Worten: Die EU hat im Austausch für die Wahrung des Scheins einer sicheren Außengrenze indirekt die Entwicklung einer Krise an der EU-Grenze zugelassen.
Da auch die Anzahl der Asylanträge in der EU erheblich niedriger ist als in 2015 und 2016, gibt es zurzeit keinen politischen Willen und kein Interesse dieses Problem zu lösen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sind einfach “zu beschäftigt” mit andere Angelegenheiten, wie z.B. die bevorstehenden Wahlen des Europäischen Parlaments. Die Migrationskrise ist ein sehr beliebtes Thema in allen möglichen Zusammenhängen geworden – nur nicht im Hinblick auf eine Zusammenarbeit, die sich auf gemeinsame Interessen zwischen den west- und (süd-)osteuropäischen Ländern stützt.
Stattdessen wird die Krise in Bosnien benutzt, um verschiedene schwammige politische Ziele zu rechtfertigen, wie die Entsendung von Militär an der EU-Außengrenze, wie die österreichische Regierung auf einem Gipfel in Salzburg im September 2018 vorgeschlagen hat. Es gibt nur wenig Interesse von Seiten der EU-Länder, anzuerkennen, dass die organisierte Kriminalität das größte Problem der Migrationskrise, in diesem Fall entlang der sogenannten Balkanroute, ist.
Das Problem ist nicht Bosnien oder der Westbalkan, das Problem liegt bei der EU und ihren Mitgliedsstaaten, und wie ernst sie es mit der Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption in den Ländern der EU und ihrer Beitrittskandidaten meinen.
[i] Die von Bosniaken und Kroaten beherrschte Föderation Bosnien und Herzegowina und von die von Serben beherrschte Republika Srpska, RS.
[ii] Straftatbestände, die den Staat als Gesamtes betreffen, wie etwa Schmuggel und andere Formen illegalen Handels, werden von den polizeilichen Behörden auf staatlicher Ebene untersucht. Diese haben wiederum weder die Kapazitäten, noch den Willen, solche illegalen Aktivitäten auf lokaler Ebene zu untersuchen.