Orbáns Tanz mit der EU
Die ungarische Regierung verabschiedete vergangene Woche zwei neue Gesetzespakete, die die Kulturfreiheit und die Freiheit der Opposition einschränken. Diese Gesetze sind der nächste Schritt Orbáns, um Ungarn in einen illiberalen Staat umzuformen. Dass ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union jahrelang systematisch Demokratie und Rechtstaat untergraben konnte, liegt vor allem daran, dass es keine wirksamen Sanktionsmechanismen gibt, wenn EU-Prinzipien verletzt werden.
Seine Verhandlungstaktik gegenüber der Europäischen Union bezeichnete der ungarische Premierminister Viktor Orbán in einer Rede einmal als „Pfauentanz“[i]. Diese Taktik funktioniert folgendermaßen: Die ungarische Regierung präsentiert ein neues Gesetz, das ihre Machtfülle erweitert und EU-Grundprinzipien wie Demokratie, Rechtsstaat oder Meinungsfreiheit einschränkt. Die Empörung auf europäischer Ebene ist groß. Darauf reagiert man mit ein, zwei meist kosmetischen Änderungen des Gesetzes. Die EU zeigt sich daraufhin zufrieden mit dem (vermeintlichen) Einlenken Ungarns. Orbán hingegen ist ebenso zufrieden, da der wesentliche Teil des neuen Gesetzes unbeschadet fortbesteht.
Die neuen Gesetze und der illiberale Staat
Anfang Dezember wurden zwei ungarische Gesetzesmaßnahmen bekannt, die erneut für solch breite Aufregung und Empörung sorgten. Mit der ersten, als „Maulkorbgesetz“[ii] kritisierten Maßnahme wurde die freie Fraktionsbildung der Abgeordneten im ungarischen Parlament aufgehoben. Außerdem hat der Vorsitzende des Parlaments nun die Möglichkeit, Abgeordnete für störendes Verhalten, wie etwa Proteste, mit hohen Geldstrafen zu belegen oder für zwei Monate ganz von Sitzungen auszusperren.
Die zweite Maßnahme ist ein neues Kulturgesetz, das die ungarischen Theater unter stärkere Kontrolle der Regierung stellt. Förderungen für kommunale Theaterhäuser sind in Zukunft an Mitspracherechte der Regierung bei der Auswahl von Intendanten geknüpft. Außerdem wurde ein neuer „Nationaler Kulturrat“ geschaffen, der die „strategische Lenkung der kulturellen Sektoren durch die Regierung“[iii] gewährleisten soll. Ernannt wird der Leiter des neuen Kulturrates von der Regierung.
In Budapest, das eine sehr lebendige Theaterszene hat, gingen nach Bekanntwerden des Gesetzesentwurfs tausende Menschen auf die Straßen und eine Online-Petition gegen das Gesetz erreichte über 50.000 Unterschriften. Während der Abstimmung im Parlament protestierten die Abgeordneten der Opposition damit, dass sie sich schwarze Theatermasken vor das Gesicht hielten. Ein Verhalten, das nach den oben beschriebenen „Maulkorbgesetz“ eventuell noch Strafen nach sich ziehen könnte.
Begründet wurden die beiden Maßnahmen mit den fadenscheinigen Argumenten, dass so der Wählerwille im Parlament besser repräsentiert sei und dass man sexuelle Übergriffe in Theatern verhindern möchte. Viele BeobachterInnen[iv] sehen das wahre Motiv jedoch darin, dass sich die Fidesz-Regierung für die Verluste bei den Kommunalwahlen im Oktober revanchieren will. Bei dieser wurden mehrere Großstädte, darunter auch die Hauptstadt Budapest, von Oppositionskandidaten erobert. Die bisher stark zersplitterten ungarischen Oppositionsparteien hatten sich dabei vielerorts auf ein Bündnis eingelassen und jeweils einen Kandidaten pro Wahlkreis unterstützt. Ansonsten wären sie gegen den Fidesz-Kandidaten chancenlos gewesen. Mit den neuen Gesetzen wird es der Opposition nun bewusst erschwert, diese Taktik weiterzuverfolgen und auch bei künftigen Wahlen als Einheit aufzutreten.
Das „System Orbán“
Die zwei neuen Gesetzespakte reihen sich in eine Fülle von Maßnahmen, mit denen Orbán sein deklariertes Ziel verfolgt, einen „illiberalen Staat“[v] zu errichten. Da Orbáns Fidesz-Partei seit 2010 fast durchgehend mit einer Zweidrittelmehrheit regiert, war es ihr möglich, beinahe ohne jegliche Kontrolle den Staat nach ihrem Willen umzugestalten.
2011 verabschiedete Fidesz im Alleingang, ohne Einbindung der Opposition, eine neue Verfassung und funktionierte seither das Parlament zu einer Gesetzgebungsmaschine um. Die meisten Gesetze werden im Schnellverfahren durch das Parlament gepeitscht, ohne Raum für eine nennenswerte Diskussion zu lassen. Vom Durchsickern des ersten Entwurfes des neuen Theatergesetzes an die Medien bis zu dessen Beschluss ist etwa nicht einmal eine Woche vergangen. Nach neun Jahren an der Macht ist zudem der gesamte Staatsapparat von Fidesz-Loyalisten durchdrungen. Vom Verfassungsgerichtshof, Behörden und staatsnahen Betrieben bis zu den öffentlich-rechtlichen Medien hat Orbán beinahe überall seine Leute eingesetzt.
Die Gewaltenteilung ist dadurch in Ungarn so gut wie aufgehoben. Der Oberste Staatsanwalt Ungarns etwa ist ein ehemaliges Fidesz-Mitglied und treuer Anhänger Orbáns. Unter seiner Amtsführung ist die Anzahl der Prozesse gegen hochrangige Politiker oder Beamte gegen Null gesunken, obwohl die Korruption in Ungarn nach Angaben des Corruption Perception Index von „Transparency International“ im selben Zeitraum stark zugenommen hat. Mehrmals weigerte sich die Staatsanwaltschaft, Korruptionsskandale rund um Fidesz-Loyalisten zu verfolgen.[vi] Mittlerweile ist Ungarn das einzige Land in der EU, das von der US-amerikanischen NGO „Freedom House“ nur noch als „teilweise frei“ eingestuft wird.[vii]
Ein wesentlicher Eckpfeiler dieses neuen illiberalen Fidesz-Systems ist die Vereinnahmung der Medien zu Regierungszwecken sowie die Zurückdrängung kritischer und unabhängiger Medien. Fidesz verfügt mittlerweile über ein eigenes Medienimperium, das mit Hilfe regierungsnaher Oligarchen aufgebaut wurde. Dieses Imperium besteht aus über 500 ungarischen Medien[viii], darunter fast alle Regionalzeitungen des Landes, die vergangenes Jahr größtenteils in einer Stiftung vereint wurde. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk verbreitet fast ausschließlich Regierungspropaganda. Gleichzeitig wird von der Regierung auf unabhängige Medien starker Druck ausgeübt. Durch neue Steuern und Inseratenboykott werden sie finanziell in die Enge getrieben, während die Regierung ihre eigenen Medien mit hohen Summen an staatlichen Geldern finanziert. Regierungskritischen Radiosendern wird die Frequenz entzogen oder erst nach jahrelangem juristischen Streit zugestanden. Die größte Oppositionszeitung „Népszabadság“ wurde im Oktober 2016, nachdem sie an regierungsnahe Eigentümer verkauft wurde, über Nacht eingestellt. Außerhalb von Budapest dominieren die Fidesz-Medien. Wer sich hier nicht bewusst nach alternativen Informationsquellen umschaut, den erreichen fast ausschließlich nur die Regierungsbotschaften.
Im vergangenen November besuchte ein Komitee bestehend aus sieben internationalen Journalistenverbänden Ungarn, um sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Im abschließenden Bericht[ix] kam das Komitee zum Schluss, dass die Fidesz-Regierung die Medienfreiheit seit 2010 systematisch abgebaut hat. Weiters forderte es die EU auf, alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um auf diese Entwicklung zu reagieren. Insbesondere in Hinblick auf die zunehmende Gefahr, dass das Modell Ungarn in benachbarten Ländern Nachahmer findet.
Der Umgang der EU mit Ungarn
Doch wie hat die Union bisher auf die Entwicklungen in Ungarn reagiert? Grundsätzlich hat die Kommission seit 2010 meist eine kritische Haltung gegenüber Orbán und der Fidesz-Regierung eingenommen. Die Kritik der EU beschränkte sich dabei aber auf isolierte Gesetzesmaßnahmen, ohne die systematische Untergrabung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in den Blick zu nehmen. Bis auf eine Reihe von Vertragsverletzungsverfahren, die meist nur kosmetische Gesetzesänderungen bewirkten oder folgenlos blieben, war sie weder willens noch fähig wirksam zu intervenieren. Wie wenig die ungarische Regierung Sanktionen aus Brüssel fürchtet, zeigen auch die massiven Anti-Brüssel-Kampagnen, bei denen Ex-Kommissionschef Jean-Claude Juncker direkt attackiert wurde.
Im September 2018 eröffnete das Europäische Parlament wegen Gefährdung der EU-Grundprinzipien ein Verfahren gemäß Artikel 7 des EU-Vertrages gegen Ungarn. Dieses Verfahren gilt als eine der schärfsten Waffen der EU, da an dessen Ende der der Verlust der Stimmrechte im Ministerrat steht. Allerdings kann sich das Verfahren jahrelang ziehen und zudem wäre für eine Sanktionierung die Einstimmigkeit der Mitgliedsstaaten nötig, was allein schon an Polen scheitern wird. Daneben droht Ungarn auch ein Ausschluss aus der Europäischen Volkspartei (EVP). Aber auch dieser gestaltet sich kompliziert, da die Mitglieder keine gemeinsame Linie finden, wie man mit Ungarn umgehen soll.
Die ungarische Regierung hingegen sieht hinter der ständigen Kritik an demokratischen und rechtsstaatlichen Defiziten in Ungarn einen recht einfachen Grund: George Soros. Dieser ist ein US-Milliardär ungarischer Herkunft, der weltweit NGOs und Bildungseinrichtungen unterstützt. Von der ungarischen Regierung wird ihm unterstellt, er verfolge das Ziel, Millionen an Flüchtlingen nach Europa zu bringen und nationale Grenzen zu zerstören.
Der ungarische Regierungssprecher Zoltán Kovács bezeichnete etwa die Minister der Mitgliedsstaaten sowie die Vertreter der EU-Kommission bei der Anhörung Ungarns letzte Woche im Artikel-7-Verfahren als „Soros-Orchester“[x]. Die Anhörung kommentierte er live auf Twitter, obwohl diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, verhöhnte dabei VertreterInnen der Mitgliedsstaaten und machte die Vorwürfe gegen Ungarn lächerlich. Der wahre Grund, warum das Verfahren gegen Ungarn geführt werde, sei nicht die Gefährdung von Demokratie und Rechtsstaat, sondern weil sich Ungarn geweigert habe, den „Soros-Plan“ zu unterstützen. Als Beweis für diese These postete Kovács unter anderem ein Bild, dass die Vizepräsidentin der Kommission Věra Jourová neben George Soros zeigt. Dies müsste seiner Ansicht nach alle Zweifel auswischen, wer in Wahrheit hinter dem Verfahren steckt.[xi]
Diese kruden Verschwörungstheorien gehören in Ungarn bereits zum politischen Alltag. Kurz nach den Wahlen im April 2018 veröffentlichte ein regierungsnahes Magazin eine Liste mit 200 Namen angeblicher „Soros-Söldner“. Auf der Liste standen auch zahlreiche JournalistInnen, die in den Jahren davor Fidesz-Korruptionsfälle, unter anderem auch in der Familie Orbáns, aufgedeckt hatten. Überhaupt werden RegierungskritikerInnen von Orbán gerne als Ungarn-Feinde dargestellt, wobei er das ungarische Volk mit seiner eigenen Partei gleichsetzt und sich als einzig wahren Vertreter des Volkswillens ansieht. Nach seiner ersten Wahlniederlage 2002 sagte er etwa den mittlerweile berühmten Satz, dass die Nation nicht in Opposition sein kann. Den Antrag auf Einleitung des Artikel-7-Verfahrens bezeichnete er gar als „Verletzung der Ehre der Ungarn“[xii].
Es bleibt abzuwarten wie und ob sich das Verhältnis zwischen Ungarn und der neuen Kommission unter dem Vorsitz von Ursula von der Leyen verändern wird. Orbán hat sich im Vorfeld jedenfalls stark für die Kandidatur Von der Leyens eingesetzt. Falls auch sie das Verhaltensmuster der bisherigen Kommissionen übernimmt und sich auf den Tanz mit Orbán einlässt, ist zu erwarten, dass dieser Ungarn auch weiterhin Schritt für Schritt in einen illiberalen Staat umformen wird.
[i] Paul Lendvai. „Orbáns Pfauentanz“. Standard, 17.9.2018, https://www.derstandard.at/story/2000087520607/orbans-pfauentanz
[ii] APA. „Ungarns Parlament verabschiedet umstrittenes ‚Maulkorbgesetz‘“. Standard, 10.12.2019, https://www.derstandard.at/story/2000112123456/ungarns-parlament-verabschiedet-umstrittenes-maulkorb-gesetz
[iii] Süddeutsche Zeitung. Gesetz zur Kulturlenkung. Süddeutsche Zeitung, 9.12.2019, https://www.sueddeutsche.de/politik/ungarn-gesetz-zur-kultur-lenkung-1.4716161
[iv] Kathrin Lauer. „Umstrittenes ‚Theatergesetz‘ als Krönung der Manipulation“. Wiener Zeitung, 11.12.2019, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/mehr-kultur/2042076-Ungarn-verabschiedet-umstrittenes-Theatergesetz.html
[v] Viktor Orbán. „Speech at the 25th Bálványos Summer Free University and Student Camp”. Kormany.hu, 26.07.2014, https://www.kormany.hu/en/the-prime-minister/the-prime-minister-s-speeches/prime-minister-viktor-orban-s-speech-at-the-25th-balvanyos-summer-free-university-and-student-camp
[vi] Krekó und Enyedi (2018). Explaining Eastern Europe: Orbáns Laboratory of Illiberalism. Journal of Democracy, 29(3), S. 41
[vii] Freedom House (2019). „Freedom in the World 2019. Hungary”. https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/hungary
[viii] Attila Bátorfy. „Infographic: Explore the media empire friendly to the Hungarian government”. Atlatszo.hu, 16.1.2018, https://english.atlatszo.hu/2018/01/16/infographic-explore-the-media-empire-friendly-to-the-hungarian-government/
[ix] International Press Institute. “Conclusions Of The Joint International Press Freedom Mission To
Hungary”. IPI Media, 3.12.2019, https://ipi.media/wp-content/uploads/2019/12/Hungary-Conclusions-International-Mission-Final.pdf
[x] Zoltán Kovács auf Twitter, 10.12.2019, https://twitter.com/zoltanspox/status/1204314950082158592
[xi] Zoltán Kovács auf Twitter, 10.12.2019, https://twitter.com/zoltanspox/status/1204360684802326528
[xii] APA. „Orbán ohne Einsicht: EU-Bericht verletze die ‚Ehre der Ungarn‘“. Die Presse, 11.9.2018, https://www.diepresse.com/5494360/orban-ohne-einsicht-eu-bericht-verletze-die-ehre-der-ungarn
Alle Links: Letzter Aufruf am 17.12.2019