Alte Ängste, neue Unsicherheiten – wie die Pandemie Migration beeinflusst
Die andauernde COVID-19 Pandemie führt aktuell in vielen europäischen Ländern wieder zu massiven Einschränkungen im Alltag. Doch die harten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie schneiden nicht nur in das alltägliche Leben massiv ein, sie verdeutlichen auch, dass offene Grenzen in der Europäischen Union, Reisen und Migration nicht selbstverständlich sind.
In Ländern wie Österreich hat die Pandemie zudem erneut besonders sichtbar gemacht, wie sehr das Land von ausländischen temporären und permanenten ArbeiterInnen abhängig ist: ErntehelferInnen wurden eingeflogen, Züge aus Rumänien für Pflegekräfte von der österreichischen Regierung organisiert und Sonderregelungen für ungarische PendlerInnen ausgehandelt.
Migration verändert Gesellschaften
Generell hat Migration in den letzten Jahrzehnten zu einer massiven Veränderung der Gesellschaften geführt. Dies gilt insbesondere für viele Länder Westeuropas. So stieg in Österreich der Bevölkerungsanteil an Menschen mit einem nicht österreichischen Pass seit 2004 von rund 775 000 Personen auf rund 1,5 Millionen Menschen in 2019 an (Statistik Austria). Die steigenden Zahlen in Österreich lassen sich einerseits auf die Grundfreiheiten im europäischen Binnenmarkt, anderseits aber auch auf die gestiegene Migration aus nicht-europäischen Ländern in den Jahren 2015 und 2016 zurückführen. Grafik 1 verdeutlicht, dass die meisten in Österreich lebenden AusländerInnen – neben Deutschland – aus östlichen EU-Mitgliedsstaaten stammen.
Grafik 1: AusländerInnen in Österreich nach Staatsangehörigkeiten 2020
Die zunehmende Migration wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder zum Gegenstand gesellschaftlicher Spannungen und Debatten. Die aktuelle Diskussion über den Zugang zum Arbeitsmarkt (siehe die Diskussion zwischen den Sozialpartnern um die Mangelberufsliste in Österreich), politische Rechte (siehe die Debatte um die Wien-Wahl 2020) und nationale Identitäten sowie Multikulturalismus (siehe Fukuyama 2019) zeugen von derartigen gesellschaftlichen Konflikten.
Migration als gesellschaftlicher Normalzustand
Gleichzeitig ist Migration historisch gesehen in diesen Ländern der Normal- und nicht der Ausnahmezustand – wie es nationalistische PolitkerInnen gern behaupten. Migration war stets eine enorme Kraft der ökonomischen sowie kulturellen Veränderung. Zusätzlich ist die Idee von ethnisch homogenen Nationalstaaten und Nationen, wie wir sie heute kennen, historisch gesehen recht neu. Generell kam mit der Französischen Revolution diese Idee konkret auf und wurde weitgehend nach dem 1. Weltkrieg gewaltvoll realisiert.
Wien beispielsweise ist bereits seit Jahrhunderten eine multiethnische und multikulturelle Stadt. Im Jahr 1900 waren 55% der Wiener Bevölkerung nicht in Wien geboren, 25% kamen aus Böhmen und Mähren (dem heutigen Tschechien), 14% aus anderen Staaten und 14% aus den übrigen Bundesländern. Eine Studie der Statistik Austria, die die Bevölkerungsentwicklung Wiens seit den städtischen Anfängen im Hochmittelalter bis zum Jahr 2000 untersucht, stellt fest, dass der Motor des Wiener Bevölkerungswachstums über alle Phasen Zuwanderung war. Von den Anfängen bis in das ausgehende 18. Jahrhundert gab es eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von unter einem Prozent. Der Bevölkerungsanstieg wäre hingegen deutlich höher ausgefallen, hätten nicht schwere Seuchenausbrüche das Wachstum wiederholt unterbrochen (Stadt Wien/Statistik Austria). Die Wachstumsrate von 2019 auf 2020 betrug 0,7 % und rund 41 Prozent der Wiener Bevölkerung (773 000) hat eine ausländische Herkunft, sprich diese Menschen haben keine österreichische Staatsbürgerschaft oder sind im Ausland geborene österreichische StaatsbürgerInnen (Stadt Wien). Darin gar nicht inbegriffen sind MigrantInnen zweiter und dritter Generation.
Neue Dynamiken der Migration
Im Vergleich zur Vergangenheit ist die heutige Migration durch permanenten Wandel und Instabilität geprägt, hervorgerufen durch die komplexen, zumeist verborgenen Verflechtungen von Digitalisierung, Globalisierung und Anforderungen eines neoliberalen Marktes. Die Corona-Pandemie hat dabei nicht nur Österreichs Abhängigkeit von Arbeitskräften aus dem Ausland sichtbar gemacht, sondern verdeutlichte auch, wie viele in Österreich lebende Menschen aus anderen Ländern stammen, beziehungsweise intensive Verbindungen zu anderen Ländern pflegen. Sowohl die Eindämmung des Virus, als auch die Abhängigkeit der Wirtschaft vom internationalen Austausch offenbarte Banales: auch offiziell geschlossene Grenzen sind durchlässig, die Frage ist nur, wer sie (noch) passieren darf.
In Zeiten der Pandemie kommen somit zur bereits existierenden und von nationalistischen Strömungen geschürten Angst vor Migration neue Ängste hinzu: die Angst der Unmöglichkeit der Migration. Denn für größeren Unmut in der Bevölkerung sorgten nicht nur das Fehlen von „ausländischen“ Arbeitskräften, sondern auch die Beschränkungen der Reisefreiheit, der Urlaubsreisen ins Ausland sowie der Familienbesuche. Das Bedürfnis, Verwandte im Ausland zu besuchen oder auch familiären Pflichten nachzukommen, wurde für viele in Österreich lebende Menschen mit starken Verbindungen zum Ausland öffentlich kaum thematisiert. Für Aufsehen sorgte hingegen Integrationsministerin Raab, die dies im Juli 2020 auf Twitter wie folgt kommentierte: „Ich appelliere an alle Menschen mit Migrationshintergrund, besonders an Menschen mit Wurzeln in den Westbalkan-Staaten oder in der Türkei: Nehmen Sie die Reisewarnung des Außenministeriums ernst.“ Dass derartige Appelle nur an Menschen mit Migrationshintergrund und nicht auch an österreichische TouristInnen gerichtet wurden, sorgte umgehend für Diskussionen – wie es das Thema Migration zumeist tut, vor allem unter den Privilegierten, die – wenn überhaupt – ohne ökonomische Not Migrationserfahrung haben.
Einstellungen zu Migration in Europa
Trotz der Polarisierung des Themas Migration haben sich die Einstellungen der EuropäerInnen dazu in den letzten Jahren deutlich verbessert. Grafik 2 zeigt, dass laut Eurobarometer das Thema Migration zwischen 2014 und 2018 immer zu den drei häufigsten Antworten der EuropäerInnen zählte, wenn sie nach den zwei wichtigsten Problemen des Landes gefragt wurden. Der Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 hat Migration, wie auch Umweltthemen, allerdings weniger wichtig erscheinen lassen.
Grafik 2: Die wichtigsten nationalen politischen Probleme im europäischen Durchschnitt 2014-2020
Ein genauerer Blick in die Daten
verdeutlicht, dass die Einstellung zu innereuropäischer Migration deutlich
positiver ausfällt als zu Migration aus nicht-EU Staaten. Zudem sind die
Einstellungen zu Migration der EuropäerInnen seit 2014 – positiver geworden.
Die positiven Einstellungen zu innereuropäischer Migration stiegen von 52
Prozent (2014) auf 68 Prozent (2020). Bei Migration von nicht-EU BürgerInnen
hat sich die Zustimmung von 35 Prozent (2014) auf 44 Prozent (2020) erhöht.
Die EU-Staaten unterscheiden sich allerdings sehr deutlich voneinander bei den Einstellungen zu Migration. Dass die östlichen Mitglieder der EU Migration kritischer sehen, hat vielerlei Gründe: Die Erfahrungen der Bevölkerung vor und nach 1989 mit Migration ins eigene Land sind deutlich geringer als im Westen Europas. Zudem haben die östlichen Mitgliedsstaaten selbst seit 1989 eine große Abwanderung der Bevölkerung, primär nach Nordamerika und Westeuropa, erlebt. So leben beispielsweise aktuell rund 20 Prozent der Bevölkerung Rumäniens im arbeitsfähigen Alter (20-64 Jahre) im Ausland.
Eine zentrale Ursache für diese innereuropäische Migration liegt im nach wie vor großen Lohnunterschied. Das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen eines Haushalts in Österreich entsprach 2019 120 % des EU-Durchschnitts. In Bulgarien (49 %), Kroatien (64 %) oder Ungarn (69%) fiel es deutlich geringer aus (Eurostat). Die massive Abwanderung hat für die östlichen Länder selbst mittel- und langfristig negative Konsequenzen. Die verfügbare Arbeitskraft im Land sinkt, was 2018 zur Verschärfung der ArbeitsnehmerInnenrechte in Ungarn geführt hat (siehe “Sklavengesetze“), hochqualifizierte Arbeitskräfte wandern ab und Universitäten haben Probleme genügend Studierende zu finden.
Migration und Marginalisierung in der „flüssigen Moderne“
Durch die bereits erwähnte Komplexität der schnellen und kurzlebigen Gegenwart fühlen sich viele Menschen abgehängt und im Stich gelassen, wobei es nur bedingt um rein ökonomische Sachverhalte geht. Wichtig ist vor allem die mangelnde soziale Anerkennung und das Gefühl Teil einer marginalisierten Gruppe zu sein: In Polen ist es der „nieudacznik“ [Verlierer], in Deutschland der „Hartzer“ und in den USA der „white trash“ (Ther 2019). Den neuen identitätsstiftenden und ihren Wert hebenden Bezugspunkt finden diese Gruppen oftmals in der Nation und sehen den Grund für den eigenen, vermeintlichen „Niedergang“ nicht in der Globalisierung und im neoliberalen Markt, sondern in den Anderen, allen voran den ethnischen Minderheiten, den MigrantInnen, den „Ausländern“, die nun die Funktion der Sündenböcke übernehmen. So ist auch die Rückkehr zu einer nationalistische Politik der letzten Jahre zu begründen, die oftmals auf den Rücken der MigrantInnen und seit 2015 speziell der Geflüchteten geführt wurde: Während Sebastian Kurz die „Österreicher und Österreicherinnen“ vor der über sie hereinbrechenden (in der Rhetorik einer Naturkatastrophe gleichenden) „Flüchtlingswelle“ retten wollte und so die „Balkanroute schließen“ musste, warnte Jarosław Kaczyński die polnischen StaatsbürgerInnen (wiederum in einer menschenverachtenden Rhetorik) vor „den verschiedene Arten von Parasiten, Einzeller, die im Körper dieser Menschen nicht gefährlich sind, jedoch hier gefährlich sein können.“ Besonders in den postsozialistischen Ländern fühlen sich viele soziale Milieus von den Machttragenden ausgeschlossen und von der Transformation betrogen, was zu der rechten Wende der Politik in Staaten wie Polen und Ungarn führte.
Aufgrund der Erfahrungen in der stark neoliberal geprägten Transformation in den östlichen EU-Mitgliedsstaaten seit 1989 gilt der von Zygmunt Bauman geprägte Begriff der „flüssigen Moderne“ (Bauman 2000) etwas mehr für die Menschen in den östlichen EU-Mitgliedsstaaten. Mit dem Begriff beschreibt Baumann die den Menschen der Gegenwart permanent begleitende Unsicherheit. Es ist ein „Leben in Fragmenten“ (Bauman 1995), geprägt vom Gebot der Selbstbehauptung und verbunden mit der antreibenden Angst vor dem eigenen Abstieg. Dabei ändern sich die Regeln, nach denen man „performen“ muss, permanent ‒ kaum eine Beschreibung passt besser auf die heutigen, pandemischen Lebensbedingungen im Schatten des Lockdowns, mit all den unvorhersehbaren Konsequenzen, erneut besonders für MigrantInnen.