Sozialdemokratie in Osteuropa – ein Auslaufmodell?

Sozialdemokratie in Osteuropa – ein Auslaufmodell?

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Bei den jüngsten Wahlen in Bulgarien gab es eine große Verliererin: die bulgarische Sozialdemokratie (BSP). Sie verlor fast die Hälfte ihrer Mandate. Wenn man sich die Bilanz der letzten Wahlen in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU ansieht, so ist nur noch in einem Staat, in Tschechien, die sozialdemokratische Partei (ČSSD) als Juniorpartnerin in Regierungsverantwortung. Und jüngste Umfragen deuten darauf hin, dass die ČSSD bei den nächsten Wahlen in diesem Herbst sogar an der 5-Prozent-Hürde scheitern könnte[1].

Natürlich gibt es bei der Entwicklung in jedem Land immer konkrete Ursachen für das schlechte Abschneiden dieser Parteien und nicht überall sieht es so dramatisch aus, wie in Tschechien, in dem die katastrophale Politik der Regierung in der Pandemie eine zentrale Rolle spielt. Aber der allgemeine Trend lässt sich nicht schön reden. In diesem Beitrag soll versucht werden zu erklären, warum es in Gesellschaften, die sozial gespalten sind und in denen es viele traditionell durch ein sozialdemokratisches Programm zu bearbeitende Problemlagen gibt, bisher zu keiner Renaissance sozialdemokratischer Politik gekommen ist.

Der Niedergang der Sozialdemokratie nach 1989

Es ist ja nicht so, dass die osteuropäische Sozialdemokratie in den letzten 30 Jahren immer am Boden lag. Nach 1989 regierten die Parteien dieser politischen Familie in vielen Staaten mit oder stellten sogar den Regierungschef. In Tschechien etwa war die Partei 15 Jahre (1998-2006, 2014-heute) an der Regierung beteiligt. In Bulgarien immerhin in vier Regierungen seit dem Systemwechsel. Allerdings hatten die Parteien Aufgaben zu bewältigen, die nicht dem üblichen sozialdemokratischen Programm entsprachen. Das betrifft vor allem die Wirtschafts- und Sozialpolitik: in Osteuropa mussten sie den Kapitalismus einführen, nicht zähmen.

Wie waren diese sozialdemokratischen Parteien eigentlich entstanden? In dem Vorgängersystem hatte es ja nur eine dominante Partei (und ein paar schwache) gegeben, die kommunistische Staatspartei. Die Sozialdemokratie gab es nicht, jedenfalls nicht offiziell. Wenn man sich die heutigen sozialdemokratischen Parteien daraufhin ansieht, so sind fast alle aus jenen sozialistischen Staatsparteien entstanden. Allerdings nicht ohne deutliche Veränderungen in der Programmatik und im Personal. In einigen von ihnen gab es schon vor 1989 starke Reformkräfte, die in Richtung auf eine Belebung der Marktkräfte und den Abbau der Zentralisierung in der Wirtschaft strebten. So war es besonders in Ungarn, Polen und vor allem in Jugoslawien.

Die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie nach 1989

Der Geburtsfehler jener osteuropäischen Sozialdemokratie liegt weniger in ihrer bürokratisch-stalinistischen Vergangenheit, mehr in ihrer Anpassung an eine Orientierung, die in der westlichen Sozialdemokratie um die Jahrtausendwende mit den Regierungen von Blair und Schröder an Einfluss gewann. Es war jenes Programm eines „Third Way“, in dem eine Annäherung an eine neoliberale Agenda vorgeschlagen wurde, eine wirtschaftsfreundlichere Ausrichtung der eigenen Politik und eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, um besser auf den Standortwettbewerb reagieren zu können. Die Kosten dafür mussten zunächst die Schwächsten der Gesellschaften zahlen. Aber viele verloren durch die Unterordnung der Gesellschaft unter das Interesse an bedingungsloser Gewinnmaximierung.

Die neugeborenen Sozialdemokraten Osteuropas sahen zu einer Übernahme des westlichen Trends keine Alternative. Zudem waren sie unter dem Einfluss der internationalen Finanzinstitutionen und der Europäischen Union, in die sie aufgenommen werden wollten, gezwungen, den Leitlinien einer großen Wirtschaftstransformation zu folgen, von einer – allerdings in die Krise geratenen – staatssozialistischen Wirtschaft und deren regionaler Arbeitsteilung, hin zu einer Marktwirtschaft ohne Adjektive und einer Einordnung in die von internationalen Konzernen dominierte globalisierte Weltwirtschaft.

Die Privatisierung nach 1989 und soziale Ungleichheit

Diese Transformation führte für die Mehrheit der Bevölkerung in Osteuropa durch ein Tal der Tränen: In Osteuropa wurde die größte Privatisierungskampagne realisiert, die es in der jüngeren Geschichte gegeben hatte. Dazu kam die unter der Überschrift einer wirtschaftlichen Stabilisierung ablaufende Superinflation sowie eine – in diesen Gesellschaften nach Jahrzehnten der Beschäftigungsgarantie erstmals auftretende – steil ansteigende Arbeitslosigkeit. Die deutliche Kluft im Lohngefälle zwischen den alten und neuen EU-Ländern befeuerte zudem die Arbeitsmigration aus Ost- und Südosteuropa nach West- und Südeuropa. Die Wahrnehmung der Kosten dieser Politik wurde durch die Hoffnung darauf gemindert, dass nach der 1989 errungenen politischen Freiheit – zumindest von den Tüchtigen – auch dasselbe Lebensniveau erreicht werden könnte, wie in Westeuropa. Wobei viele dabei Deutschland, Österreich oder Schweden als Vergleichsmaßstab hatten. Diese Hoffnung wurde nach dem erreichten Beitritt dieser Staaten zur EU allerdings schwächer und starb in den folgenden Jahren ganz.

Die Enttäuschung trug zur Krise des politischen Systems bei, welche sich u.a. im Zusammenbruch jener Parteien äußerte, die während der Transformationsjahre Regierungsverantwortung trugen. Das waren in vielen Ländern eben jene neuen Sozialdemokraten gewesen. In Polen verlor die SLD bei den Wahlen von 2005 fast drei Viertel der bei den vorangegangenen Wahlen errungenen Stimmen. Die bis 2010 regierenden Sozialisten in Ungarn verloren in jener Wahl ebenfalls deutlich und sind heute nach der Abspaltung einer Partei des früheren Ministerpräsidenten Gyurcsány in den Umfragen bei 5 Prozent. In Tschechien verloren von den bis dahin etablierten Parteien sowohl die Mitte-Rechts-Partei ODS als auch die ČSSD bei den Wahlen 2010 viele Mandate. Die bulgarischen Sozialisten oszillierten in ihrer politischen Unterstützung stärker als jene genannten Parteien, d.h. sie verloren und gewannen anschließend wieder stärker. In allen Ländern wurde die Instabilität der bisherigen Parteiensysteme durch einen Aufstieg neuer populistischer Parteien begleitet. In Polen kam PiS an die Regierung, in Ungarn Fidesz (eine Partei, die vorher konservativ gewesen war und sich nunmehr nationalpopulistisch gerierte), in Tschechien wurde ANO 2011 geboren, in Bulgarien kam es immer wieder zu populistischen Neugründungen, die Partei des früheren Königs Simeon II oder wie jetzt die des Musikers Slawi Trifonow.

Die soziale Lage in Osteuropa und fehlende sozialdemokratische Politik

Der wichtigste Grund, warum man die augenblickliche Schwäche der sozialdemokratischen Parteien bedauern kann, ist: Es gibt viele ernste soziale Probleme in den osteuropäischen Staaten, die nach einer Lösung verlangen. Auch im Zusammenleben der Menschen im Rahmen der EU gibt es dringende Aufgaben. Nicht zuletzt zeugt die anhaltende Arbeitsmigration nach Westeuropa davon. Viele der schweren körperlichen Arbeiten in der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie werden in West- und Südeuropa durch Menschen aus Polen, Rumänien, Ungarn oder aus Staaten die Skandale in der deutschen Fleischindustrie im letzten Jahr gezeigt haben.

Und die Lage des Gesundheitssystems in den osteuropäischen Gesellschaften wird durch die Auswanderung von medizinischem Personal in die reicheren Länder Westeuropas verschlechtert. Allerdings müssten auch die westeuropäischen Gesellschaften sich dieses Problems annehmen und solidarischer werden. Nur auf die eigenen Sorgen zu schauen und weiterhin von den Lohnunterschieden zwischen Ost und West zu profitieren, passt nicht zum Leitbild eines sozialen Europas.

Kommt es zu einer Renaissance der Sozialdemokratie in Osteuropa?

Ungeachtet dieser Einschätzung bleibt die Frage: Gibt es politische Tatsachen, die dafür sprechen, dass sich in Osteuropa zukünftig eine authentische, den Interessen der schwächeren Bevölkerungsmehrheit zugewandte sozialdemokratische Politik geben wird, die auch politische Unterstützung bekommt?

Zwei Dinge lassen mich etwas optimistischer zurück: Zum einen gibt es immer wieder politische Proteste gegen selbstherrliche Entscheidungen der Regierenden. Manche dieser Proteste richten sich auch auf die Überwindung von Armut und sozialer Kälte, auch wenn allerdings die meisten dieser Bewegungen eher von denjenigen getragen werden, die weniger unter den Ungerechtigkeiten der Wirtschaftsordnung leiden. Zum anderen entstehen in einigen Ländern neben den diskreditierten Parteien neue politische Gruppierungen, die auch einen gewissen Widerhall in der Wählerschaft finden. Diese Gruppen richten sich auf die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und auf mehr soziale Solidarität und Gerechtigkeit.

In Polen sind das Wiosna und Razem, die mit der SLD in ein Linksbündnis eingetreten sind, welches gerade unter jungen Wähler:innen einen zunehmenden Einfluss hat[2]. In Ungarn gibt es eine kleine sozial-ökologische Partei, PÁRBESZÉD (Dialog für Ungarn), die mit anderen Oppositionsparteien zusammen in Budapest den Posten des Bürgermeisters erobern konnte. In Bulgarien hat eine neue Partei Izpravize.bg (Aufstehen) im Verbund mit anderen kleinen Gruppierungen die 4-Prozent-Hürde überwunden und Parlamentssitze erobern können. Wenn nun auch noch in den schwächer gewordenen sozialdemokratischen Parteien sich authentische linke Kräfte durchsetzen, könnten, wie in Polen, für eine demokratische, solidarische Politik politische Bündnisse gebildet werden, die sich für eine Wende zu einer Gesellschaft einsetzen, welche soziale gerechter wird und mehr im Einklang mit der Natur steht.


[1] So der Leiter des FES-Büros in Warschau, Ernst Hillebrand in einer Debatte zur Lage der Sozialdemokratie in Ostmitteleuropa, organisiert von Bundeskanzler Willy Brandt-Stiftung und FES am 15.4.21.


[2] So die neueste Wahlumfrage von PolitPro vom 12.4. 21, bei der die ČSSD nur noch mit 3,7 Prozent gemessen wurde. https://politpro.eu/de/tschechien

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