Transformation (neu) erzählen. Mit Romanliteratur gesellschaftlichen Wandel verstehen

Transformation (neu) erzählen. Mit Romanliteratur gesellschaftlichen Wandel verstehen

Print Friendly, PDF & Email

In den letzten Monaten haben sich die Entwicklungen rund um den ‚Fall des Eisernen Vorhangs‘ und die Auflösung der Sowjetunion zum 30. Mal gejährt — in einer Zeit, in der die Covid-Pandemie neue Grenzregime und globale Abhängigkeiten drastisch ins Bewusstsein rückt. Nicht nur im Alltag wünschen sich viele zurück in eine romantisierte Normalität, die es so nie gegeben hat. Die Auseinandersetzung mit einem sich transformierenden Europa beschäftigt auch die Politik und Politikwissenschaften. Die sogenannte Transformationsforschung, die sich mit tiefgreifenden Veränderungen politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Systeme befasst, ist in den letzten Jahren jedoch vermehrt an die Grenzen teils unhinterfragter Vorannahmen gestoßen — das viel zitierte ‚Ende der Geschichte‘ ist jedenfalls nicht in Sicht. Vielmehr fordern lang verdrängte und marginalisierte Geschichten ihren Platz in der kollektiven Erinnerung ein. Für die Politikwissenschaft lohnt es sich, den Blick zu öffnen für Erzählungen von Transformation, die über die Vorstellung vom klar trennbaren Vorher/Nachher und den Fokus auf wirtschaftliche und politische Institutionen und Eliten hinausgehen. Wer Zeit zum Lesen findet, begegnet in den Romanen „Spaltkopf“ von Julya Rabinowich, „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwili und „Das letzte rote Jahr“ von Susanne Gregor möglicherweise neuen Perspektiven auf anhaltende Herausforderungen.

Mythos europäischer Einheit

Die viel beschworene Rückkehr zu einem ‚vereinigten Europa‘ ist ein Narrativ, das sich seit den ‚friedlichen Revolutionen‘ des symbolischen Jahres 1989 in den nunmehr post-staatssozialistischen Ländern (Ost-)Europas über die letzten Jahrzehnte hartnäckig gehalten hat — ein Narrativ, auf das insbesondere die Europäische Union als Idee einer ‚Wertegemeinschaft‘ angewiesen ist. Nicht zuletzt die aktuellen, pandemie-geprägten Umstände machen jedoch deutlich: das idealisierte Gemeinsame bricht sich an der Realität struktureller Ungleichheitsverhältnisse und unaufgearbeiteter Traumata. Im Zugang zur Existenzsicherung, sei es die medizinische Versorgung oder menschenwürdige Arbeits- und Wohnverhältnisse, zeigt sich die (Re-)Aktivierung und Transformierung alter und neuer Grenzziehungen innerhalb Europas. Die strukturelle Benachteiligung entlang vergeschlechtlichter und rassifizierender Kategorien ist dabei ganz grundlegend in die ungleiche Verteilung von ökonomischen Ressourcen eingeschrieben.1 Sie bestimmt auch, wessen Geschichten erzählt und gehört werden — und in den Fokus politikwissenschaftlicher (Transformations-)Forschung rücken.

Grenzziehungen und Möglichkeitsräume

Im gelebten Alltag gestalten sich diese Grenzziehungen mal mehr, mal weniger subtil. Julya Rabinowichs Roman „Spaltkopf“ (2008) erzählt die Geschichte Mischkas, ihrer Kindheit in den 1970er Jahren in St. Petersburg (damals Leningrad), der Migration ihrer Familie nach Wien, den Wirren der Pubertät und eines intergenerationellen Traumas gewaltvoller Antisemitismus-Erfahrungen als eine Konfrontation zwischen Welten. Das machtpolitisch organisierte Gegensatzpaar ‚Westen‘ und ‚Osten‘, welches nicht nur die Zeit des Kalten Krieges prägt, sondern auch in aktuellen Diskursen über ‚Osteuropa‘ präsent ist, ist zwar Teil dieser Auseinandersetzungen, wird ihnen aber letztlich nicht unbeschadet standhalten können. Denn die Welten, zwischen denen sich die Ich-Erzählerin bewegt, sind in konstantem Wandel begriffen: „Ich irre zwischen meiner Kinderwelt, der Welt der Hochkultur und dem mich umgebenden Proletariat umher, ich habe mich wie das Rotkäppchen vom Weg abbringen lassen. Munter klappert der Inhalt meines Körbchens.“2 Das mit eigenen Erfahrungen gefüllte Körbchen ist eingeflochten in ein dichtes Netz struktureller Zusammenhänge, die einerseits die Bewegungsfreiheit (vor-)prägen und einschränken und von Mischka zugleich hinterfragt und überschritten werden. Die zahlreichen Referenzen auf literarische Figuren aus russischen, hebräischen und deutschen Volkserzählungen und griechischer Mythologie machen nicht nur den besonderen Erzählstil Rabinowichs aus, sondern führen die Leser*innen in unerwartete Dimensionen zwischen Fiktion und Realität. In diesen Zwischenwelten wird der Umgang mit den Widersprüchlichkeiten verschiedener Lebenserfahrungen — Pubertät, Migration, Trauer — zwar nicht einfacher, aber auf neue Weise handhabbar.

Transformation von Zeit-Räumen

Die Fähigkeit von Romanen, nicht nur die Widersprüchlichkeiten gelebter Erfahrungen, sondern auch komplexe Zeit-Raum-Zusammenhänge zwischen zwei Buchdeckeln zusammenzuziehen, wird etwa im Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwili besonders deutlich. Entlang der verstrickten Lebensgeschichten mehrerer Generationen von Frauen ihrer Familie erzählt die Ich-Erzählerin Niza der jüngsten dieser Frauen, ihrer zwölfjährige Nichte Brilka, zugleich eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich quer durch die Zeit und Europa zieht — vom Zerfall des russischen Zarenreichs, der Oktoberrevolution, den Weltkriegen, dem Mauerfall, dem Bürgerkrieg in Georgien. Dabei begegnen historische Personen fiktiven Figuren auf unerwartete Weise, und meistens ist die Grenze zwischen ihnen gar nicht klar. Hier dient der Teppich als Metapher für die vielen Geschichten innerhalb ‚der Geschichte‘, die es aufzuspüren gilt: „Du bist ein Faden, ich bin ein Faden, zusammen ergeben wir eine kleine Verzierung, mit vielen anderen Fäden zusammen ergeben wir ein Muster. Die Fäden sind alle verschieden dick oder dünn, in verschiedenen Farben gehalten. Die Muster sind einzeln schwer zugänglich, aber wenn man sie im Zusammenhang betrachtet, dann erschließen sich einem viele fantastische Dinge.“ [3]

Geteilte Geschichte/n

Die Suche nach der eigenen, gemeinsamen Geschichte hat in den Romanen Rabinowichs und Haratischwilis nicht die idealisierte Gemeinschaft unter vermeintlich Gleichen, die immer notwendigerweise die Abgrenzung vom ‚Anderen‘ bedeutet, im Blick, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit strukturellen, wie zwischenmenschlichen Abhängigkeiten. Auch in Susanne Gregors Roman „Das letzte rote Jahr“ sind persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen derart verwoben. Die Ich-Erzählerin Miša erzählt rückblickend die Geschichte des Jahres 1989 als Erinnerung an ihre Freundinnen Rita und Slavka, deren selbstverständlich geglaubter Alltag durch unerwartete Ereignisse in Bewegung kommt: die erste Menstruation, die mögliche Flucht in ‚den Westen‘, das sich Verlieben und Politisieren. Dazu bindet die Autorin zahlreiche Verweise auf verschiedene Romane in die Erzählung ein — allen voran den Lieblingsroman der Ich-Erzählerin Miša, „Der geteilte Himmel“ (1963) von Christa Wolf, eine der bekanntesten Schriftsteller:innen der DDR. Die Mehrdeutigkeit dieses Titels bestimmt zugleich den Tenor von Gregors Roman: „‚Der geteilte Himmel‘, las er im Inneren des Buches den Originaltitel, interessant, denn das deutsche Wort teilen kann bedeuten, etwas zu zerteilen, also es zu trennen, oder aber es kann bedeuten, etwas gemeinsam zu besitzen, etwa teilst du mit Alan die gleichen Eltern, verstehst du? Ist der geteilte Himmel also ein gemeinsamer oder ein in mehrere Teile getrennter, fragte er und hielt siegessicher das Buch in die Luft. Ich starrte ihn fassungslos an […]“.4

Fiktionale Literatur in der Politikwissenschaft

Romane wie „Spaltkopf“, „Das letzte rote Jahr“ und „Das achte Leben (Für Brilka)“ bieten nicht nur vielschichtigen und spannenden Lesestoff, inklusive in die Erzählung eingebauter, weiterführender Leseempfehlungen (Christa Wolf, Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Anna Andreevna Achmatova u.a.). Für die Politikwissenschaft stellt die Auseinandersetzung mit Romanen als fiktive Erzählwelten auch ein bisher wenig ausgeschöpftes Potential dar, Transformation als vielschichtige und multidirektionale Prozesse zu denken, bei denen nicht ein vordefiniertes Ende im Fokus steht (liberale Demokratie und Kapitalismus als vermeintlich höchste zivilisatorische Errungenschaften), sondern die Widersprüchlichkeit gelebter Realitäten und Identitäten — mitsamt den in ihnen wirkenden gesellschaftlichen Strukturen, aber auch Emanzipationspotentialen. Romane bieten die Möglichkeit, Zusammenhänge und Erfahrungen zu sehen, die bestehende wissenschaftliche Konzepte und Begriffe — die ja letztlich auch auf fiktive, d.h. über die erfahrbare Realität hinausweisende Elemente angewiesen sind (Löffler 2012: 310)5 — noch nicht greifen können. Wer dem Drang widersteht, zur letzten Seite vorzublättern (die für sich allein stehend keine Bedeutung hat), weil die Spannung nicht auszuhalten ist, entdeckt womöglich die ein oder andere unerwartete Wendung der Geschichte — und die Romanwelt als ermächtigenden Reflexions- und Rückzugsort.

Literatur:

1 Sojka, Aleksandra (2020), Liminal Europeanness: whiteness, east-west mobility, and European citizenship, in: Kulawik, Teresa/Kravchenko, Zhanna (Ed.), Borderlands in European Gender Studies. Beyond the East-West Frontier. London und New York: Routledge, 191-210.

2 Rabinowich, Julya (2011 [2008]), Spaltkopf. Wien: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag. (S.47)

3 Haratischwili, Nino (2017 [2014]), Das achte Leben (Für Brilka). Berlin: Ullstein Buchverlage. (S. 30)

4 Gregor, Susanne (2019), Das letzte rote Jahr. Frankfurt am Main: Frankfurter Ver- lagsanstalt. (S. 151-152)

5 Löffler, Marion (2012), Fiktionale Literatur als Beitrag zur politischen Theorie, in: Kreisky, Eva/Löffler, Marion/Spitaler, Georg (Hg.), Theoriearbeit in der Politikwissen- schaft. Wien: facultas, 307-320.

Share with: