Zwischen Kriminalisierung und Widerstand: Obdachlosigkeit in Ungarn

Zwischen Kriminalisierung und Widerstand: Obdachlosigkeit in Ungarn

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Gesellschaftliche Kämpfe um leistbaren und lebenswerten Wohnraum sind wohl ein universelles urbanes Phänomen. Für postsozialistische Städte stellt sich die Frage aber mit besonderer Brisanz: In den letzten drei Jahrzehnten seit der Wende wurde in vielen Ländern Ost(mittel)europas der ehemals staatlich verwaltete Wohnsektor radikal und rapide zu einem freien Wohnungsmarkt umfunktioniert. Dies geht nach der Politsoziologin Kerstin Jacobsson mit dem Verfall des Wohnungsbestands, einer Aufteilung in arme und wohlhabende Gegenden sowie zu wenig Neubau von Sozialwohnungen einher. Dazu kommen steigende Mieten und Strompreise, Gentrifizierung sowie die Privatisierung des öffentlichen Raums. Die Regierungen setzten diesen Problemen keine adäquaten Maßnahmen entgegen. [1]

Eine Besonderheit des osteuropäischen urbanen Raumes war das plötzliche Aufkommen der sichtbaren und massenhaften Obdachlosigkeit nach 1989. Unmittelbar nach der Wende war eine Hauptursache dafür – zumindest in Ungarn – ausgerechnet die Entkriminalisierung der Obdachlosigkeit: zehntausende Obdachlose wurden aus staatlichen Institutionen und Gefängnissen entlassen, hatten aber weiterhin keinen Wohnsitz. Dazu kamen immer mehr Personen, die aus staatlichen Wohneinrichtungen ausziehen mussten. [2]

In den letzten Jahren hat Ungarn eine erneute repressive Wende seiner Obdachlosenpolitik vorgenommen. Seit 2018 ist Obdachlosigkeit gesetzlich verboten. Dabei ist es auch nicht unerheblich, den Unterschied zwischen Obdach- und Wohnungslosigkeit zu beachten: Obdachlose leben und nächtigen auf der Straße (bzw. in Notunterkünften), Wohnungslose leben in längerfristigen Unterkünften. Die staatliche Repression richtet sich vor allem gegen obdachlose Personen, da diese besonders sichtbar sind.

Spezifika der Obdachlosigkeit in Ungarn

Es ist schwierig genaue Zahlen über Obdachlose in Ungarn zu erheben, die Schätzungen schwanken zwischen 12.000̶̶̶̶̶ ̶ ̶̶30.000 Personen. Die Zahlen setzen sich vor allem aus den Angaben verschiedener Versorgungsstellen zusammen. Dadurch kommt es einerseits zu Lücken, da nicht alle Personen Hilfsangebote in Anspruch nehmen und andererseits zu Mehrfachzählungen. [3] Die Betroffenen sind größtenteils männlich, wobei der Anteil der Frauen sich mit 30% seit der Wende verdreifacht hat. [4]

Eine besonders wichtige Quelle ist das Langzeit̶-Forschungsprojekt Február Harmadika (Dritter Februar). Seit 1990 befragen Fachpersonen aus der Obdachlosenhilfe am kältesten Tag des Jahres so viele ihrer Klient:innen wie möglich zur ihren Lebensumständen. Der Fokus liegt somit dezidiert nicht auf einer Zählung, sondern der Verbesserung der Versorgung. 2020 nahmen mehr als 7500 Wohn- und Obdachlose an der Befragung teil. Bei der Selbstangabe der Gründe für die Wohnsituation kristallisieren sich zwei Hauptfaktoren heraus: Fast 50% sehen familiäre Konflikte als Hauptursache, gefolgt von wirtschaftlichen Gründen mit knapp 30%. Auch wenn das Verhältnis ähnlich geblieben ist, ist es doch auffällig, dass die wirtschaftlichen Gründe nicht nur seit 1999 zugenommen, sondern auch ihren bisherigen Höchststand erreicht haben. [5]

Ökonomische Aspekte spielen auch laut der Forscherin und Aktivistin Éva Tessza Udvarhelyi eine große Rolle in der Wohnkrise Ungarns. In ihrem 2014 erschienen Buch stellt sie fest, dass eine starke räumliche Trennung zwischen arm und reich besteht: 300.000 Personen wohnen an Orten konzentrierter Armut, im Norden Ungarns gibt es Dörfer mit einer Arbeitslosenquote von bis zu 90%. Die Gruppe der Roma ist dabei besonders betroffen: Jede:r zweit:e Rom:ni lebt in ethnisch segregierten Gegenden mit schwacher Infrastruktur. Auch unter den Obdachlosen sind sie überrepräsentiert. 2013 bezeichneten sich 16% der Obdachlosen als Rom:nija, welche in demselben Jahr aber lediglich knapp 9% der Bevölkerung ausmachten. [6]

Wie gefährlich so eine schlechte infrastrukturelle Versorgung werden kann, zeigt die Tatsache, dass über 10% der Bevölkerung keine adäquate Beheizung im Winter hat. Der Großteil der Erfrierungstode findet nicht auf der Straße, sondern Zuhause statt. Der naheliegende Vorschlag, dass Personen in prekären Wohnsituationen auf soziale Wohnangebote ausweichen sollen, scheitert an der Realität: 2014 waren nur 3% der ungarischen Wohnungen in staatlicher Hand, darunter nicht nur Sozialwohnungen. Der Bedarf nach sozialem Wohnbau übersteigt das Angebot also bei weitem. Darüber hinaus haben Mieter:innen von Eigentumswohnungen oft keinen ordentlichen Mietvertrag und sind den Eigentümer:innen somit ausgeliefert. [7]

Aus den Augen, aus der Welt – Kriminalisierung der Obdachlosigkeit

Ein früher gravierenderer Eingriff in die bestehende Rechtsordnung nach der Machtübernahme durch die FIDESZ 2010 war die Einführung des 3-Strike-Prinzips im Strafgesetzbuch. Wie beispielsweise in Kalifornien ist es auch in Ungarn der Fall, dass rückfällige Straftäter:innen für das selbe Vergehen zunehmend längere bzw. lebenslängliche Strafen verbüßen. 2012 wurde die 3-Strike-Regelung auch auf alle Ordnungswidrigkeiten – also z.B. Zigarettenstummel auf den Boden werfen – ausgeweitet. Bei einem dritten „Rückfall“ innerhalb eines halben Jahres drohte nun statt einer Geldstrafe Haft. Ende 2011 wurde dann erstmals ein Gesetz beschlossen, dass Obdachlosigkeit zur Ordnungswidrigkeit erklärte, wobei dieses von dem Verfassungsgericht sofort als verfassungsfeindlich eingestuft und ausgesetzt wurde. Orbán, der sich bis dato in Zurückhaltung bei der Thematik geübt hatte, stellte daraufhin in Aussicht, das Gesetz in der Verfassung zu verankern, um die Kontrolle durch das Gericht zu umgehen. [8]

Als 2013/2014 tatsächlich die vierte Verfassungsänderung folgte, sollte sie unter anderem den Kommunen ermöglichen, Obdachlosigkeit im öffentlichen Raum zu verbieten. Sowohl dieser Versuch als auch ein weiterer 2016 scheiterten zunächst knapp vor Verfassungsgericht und Oberstem Gerichtshof. Im Herbst 2018 erreichte die Regierung schließlich doch das endgültige Verbot der Obdachlosigkeit, in dem sie Artikel XXII der Verfassung um ein Verbot des „Aufenthalt an öffentlichen Orten zu Zwecken der Lebensführung“ ergänzte. Anschließend verschärfte sie das Verwaltungsrecht: Nun konnten Obdachlose nicht erst, gemäß den 3-Strikes, beim dritten Mal, sondern sobald sie kommunale Arbeit verweigerten, inhaftiert werden. [9] Zu dem ist die Polizei unter anderem auch dazu befugt, ihren persönlichen Besitz zu beschlagnahmen und zu vernichten. [10]

Die Stadt gehört allen – Widerstand und zivilgesellschaftliche Interventionen

Das Gesetz wurde von Seiten der Interessensorganisationen nicht widerspruchslos hingenommen, dutzende Demonstrant:innen protestierten bereits im Vorfeld, indem sie auf Pappkartons sitzend öffentliche Plätze vereinnahmten. [11] Diese Art des zivilen Protests hat in Ungarn Tradition: 1989-1990 kam es anlässlich der Planung nächtlicher Schließungen der Bahnhöfe zu mehreren großen Demonstrationen in denen sich Bündnisse zwischen Obdachlosen, Jugendlichen und NGOs bildeten.

Zentral für den aktuellen Widerstand ist die 2009 in Budapest durch Udvarhelyi gegründete NGO ‚Die Stadt gehört allen‘ (ÁVM). Die seit 2015 auch in Pécs, der fünftgrößten Stadt Ungarns, vertretene Organisation zielt, wie die Proteste der Wende, auf klassenübergreifende Solidarität. Ihre Mitglieder sind ehemals oder aktuell obdachlos, von Wohnungslosigkeit bedroht oder Sympathisant:innen. Neben Bildungsarbeit und politischer Partizipation bietet ÁVM auch konkrete Services wie die Rechtsberatung Utcajogász an, die sich unter anderem an dem Arbeitskreis Ordnungswidrigkeit beteiligt und Betroffene bei Verfahren unterstützt.

Ausblick

Die Corona-Pandemie stellt Wohnungs- und Obdachlose vor neue Herausforderungen: So soll sich die Zahl der Obdachlosen in Pécs verdreifacht haben. [12] Über die Hälfte der unter 29-jährigen Obdachlosen hat nach eigener Aussage ihren Arbeitsplatz während der Pandemie verloren. [13] Kämpfe um Wohnraum müssen mit dem Kampf für die Rechte von Obdachlosen verbunden sein, nicht zuletzt, weil ein adäquates, sicheres Wohnumfeld den größten Schutz vor Obdachlosigkeit bietet – bzw. auch den Ausstieg aus dieser. Dieser sogenannte Housing-First-Ansatz, bei dem obdachlose Personen von Anfang an ein eigenständiges Mietverhältnis eingehen und dabei individuell und langfristig unterstützt werden können, wird z.B. erfolgreich vom neunerhaus in Wien praktiziert. Darüber hinaus scheinen sich in Ost(mittel)europa in diesem Feld auch Menschen aus sozial geschwächten Schichten zu organisieren, die an anderen politischen Partizipationsangeboten wenig teilhaben, wie sich u.a. an der Mieter:innenbewegung in Polen zeigt. [14] Diese klassenübergreifenden Bündnisse sind wichtig, um für eine lebenswerte Stadt einzustehen, die gegen Obdachlosigkeit und nicht gegen die von ihr Betroffenen vorgeht.

Verweise

[1] Jacobsson, K. (2015). Introduction: The Development of Urban Movements in Central and Eastern Euorpa. In K. Jacobsson (Hrsg.), Urban Grassroots Movements in Central and Eastern Europe (S. 1-32). Ashgate.

[2] Győri, P. (2020). Idősorok a hazai hajléktalanságról. In T. Kolosi, I. Szelényi, & I. Tóth, Társadalmi Riport 2020 (S. 332-357). TÁRKI.

[3] https://avarosmindenkie.blog.hu/2016/09/03/hany_hajlektalan_ember_el_magyarorszagon

[4] Udvarhelyi, É. (2014). Az igazság az utcán hever. Válaszok a Magyarországi lakhatási válságra. Napvilág kiadó (S.74 – 75)

[5] https://g7.hu/kozelet/20201023/kevesebb-a-hajlektalan-de-egyre-remenytelenebb-a-helyzetuk/

[6] Udvarhelyi, 2014, S. 74 – 75 / Pénzes, J., Tátrai, P. & Pásztor, I. (2018). A roma népesség területi megoszlásának változása Magyarországon az elmúlt évtizedekben: Changes in the Spatial Distribution of the Roma Population in Hungary During the Last Decades. http://www.ksh.hu/statszemle_archive/terstat/2018/2018_01/ts580101.pdf

[7] Udvarhelyi, 2014, S. 24-28

[8] Udvarhelyi, 2014, 2014, S. 120-127

[9] https://magyarnarancs.hu/belpol/latvany-es-valosag-112053 https://index.hu/belfold/2018/10/14/hajlektalan_szabalyozasi_torveny/
Ein kompakter Überblick über die Änderungen auf Englisch findet sich unter: http://utcajogasz.hu/en/resources/information-materials/the-criminalisation-of-homelessness-in-hungary/

[10] https://www.dw.com/de/ungarn-wenn-armut-zur-straftat-wird/a-45895615

[11] ebd.

[12] https://www.pecsma.hu/top/tamasz-pecsett-kozel-haromszor-annyi-az-uj-hajlektalan-mint-tavaly-ilyenkor/

[13] Győri, P., Gurály Z., & Szabó, A. (2021). Világjárvány veszélyében lakástalanul: Jelentés a hajléktalan emberek 2021. február 3-i országos kérdőíves adatfelvételéről. https://drive.google.com/file/d/13FhRO_2-CaMdX6_oKHBeNgT2VOSuMBxu/view

[14] Polanska, D. V. (2015). Alliance Building and Brokerage in Contentious Politics: The Case of the Polish Tenants’ Movement, In K. Jacobsson (Hrsg.), Urban Grassroots Movements in Central and Eastern Europe (S. 195-219). Ashgate.

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