Rassismus in Ungarn: Warum knien die ungarischen Fußballer nicht?
Während der Fußball-Europameisterschaft im Sommer 2021 wurde das Niederknien als Symbol gegen Rassismus in Europa populärer und zugleich kontrovers diskutiert. In Ungarn stellte sich diese Frage kaum und die Fußballer der Nationalmannschaft schlossen sich dieser Geste nicht an. Einige ungarische Zuschauer:innen fielen zuletzt auch immer wieder durch gewaltbereites und rassistisches Verhalten auf, in dem sie unter anderem ausländische Fußballer während des Niederkniens ausbuhten. Was verbirgt sich dahinter?
Ungarns Premierminister Viktor Orbán hat eine eindeutige Position zum Niederknien:
„Der ungarische Mann kniet vor Gott, er kniet vor seinem Heimatland, und wenn er seine Geliebte bittet, ihn zu heiraten, ist das der dritte Fall. (…)Wir erwarten nicht, dass alle unsere Mannschaften, die das Nationaltrikot tragen, knien, wir erwarten das Gegenteil. Wir erwarten, dass sie kämpfen, dass sie siegen, und wenn sie scheitern, und [das Schicksal] es will, dass sie stehend sterben. (…) Das ist alles kulturell völlig fremd für die Welt, in der wir leben. (…) Es wurde im Grunde von ehemaligen Sklavenhalterländern erfunden. Und wir Ungarn sehen das Gewicht und die Last dessen nicht, denn Ungarn war nie ein sklavenhaltendes Land.”
An Viktor Orbáns Worten ist etwas Wahres dran, aber die Schlussfolgerung, die er daraus zieht, ist – wie fast immer – unreflektiert und selbstgerecht. Wie sieht der historische Hintergrund des Themas wirklich aus, vor allem, wenn man es nicht aus der Perspektive einer politischen Kommunikationsschlacht betrachtet?
Orbán verneint Rassismus fälschlicherweise
Die Behauptung, dass Rassismus in Ungarn völlig fremd sei, ist nicht haltbar. Tatsächlich sind sowohl Rassismus als auch Fremdenfeindlichkeit im heutigen Ungarn sehr präsent. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit richteten und richten sich in Ungarn in erster Linie gegen die jüdische Bevölkerung und Romani. Seit den 1980er Jahren treten sie zudem sporadisch gegen sogenannte „andere Rassen“ (asiatisch-stämmige Menschen, People of Colour) auf. Seit der sogenannten „Migrationskrise“ 2015 gilt dies auch sehr stark für nicht-europäische Geflüchtete.
Es stimmt jedoch, dass der Rassismus in Ungarn auf andere Weise und aus anderen Gründen präsent ist als in westeuropäischen Ländern. Ungarn hat keine direkten Erfahrungen mit dem Kolonialismus gemacht. Obwohl die Ideen dieser Zeit bis nach Ungarn gelangten, wurde das Land aber nicht zum Kolonialisten und hatte auch kaum Berührungspunkte mit in den Kolonien lebenden Menschen. Aus diesem Grund hat sich die nationalsozialistische Theorie der Rassenhierarchie in der ungarischen extremen Rechten nicht durchgesetzt. Dazu trug auch die Tatsache bei, dass das ungarische Volk ebenfalls aus dem Osten stammte, was den Ungarn keinen herausragenden Platz in der „Rassenhierarchie“ verschafft hätte. So rechtfertigte beispielsweise die ungarische extreme Rechte die Ausgrenzung von Menschen, die als Juden angesehen wurden, nicht mit der „Minderwertigkeit“ derselben, sondern erklärte einfach, dass die Vermischung von Menschen unterschiedlicher Rassen schädlich sei. Die Theorie der „Hierarchie der Völkerzivilisationen“ war jedoch im Ungarn der Zwischenkriegszeit weit verbreitet. Nach dieser Theorie waren diejenigen Völker „überlegen“, die in der Lage waren, einen eigenen Staat zu gründen. So konnte das ungarische Volk aufgrund der „historischen Erfahrung“ als zivilisierter angesehen werden als die Völker, denen es erst vor kurzem oder überhaupt nicht gelungen war, einen eigenen Staat zu gründen.
Rassismus und Diskriminierung im Ungarn des 20. Jahrhunderts
Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass sich in Ungarn nach 1945 nicht wie in Westeuropa eine multikulturelle Wohlfahrtsgesellschaft entwickelt hat. Das hat sich auch nach 1989 nicht geändert. Seit dem Friedensvertrag, der den Ersten Weltkrieg beendete, ist Ungarn ein fast vollständig ethnisch homogener Nationalstaat. Außerdem wird die ethnische Vielfalt in der ungarischen Öffentlichkeit – auch in Schulbüchern – nicht als Wert, sondern als Bedrohung angesehen. Der Friedensvertrag von Trianon, der den Ersten Weltkrieg beendete und bis heute als nationales Trauma gilt, führte für viele in Ungarn zu der Überzeugung, dass die Nationalitäten in einem Vielvölkerstaat nur auf die Gelegenheit warten sich abzusetzen. Unter anderem aus diesem Grund herrscht in Ungarn auch das Misstrauen gegenüber nationalen Minderheiten. Im 20. Jahrhundert richtete sich dies in erster Linie gegen die deutsche Minderheit in Ungarn, da sie die einzige bedeutende Nationalität im Lande blieb.
Zu diesen beiden Faktoren kommt ein drittes wichtiges Merkmal Ungarns hinzu: der Mangel an sozialer Solidarität. Während des Zweiten Weltkriegs versuchte die extreme Rechte, die Solidarität mit den verfolgten Jüd:innen mit verschiedenen Mitteln zu schwächen (antisemitische Propaganda, Verteilung jüdischen Eigentums, und Einschüchterung von Personen, die mit der Judenverfolgung nicht einverstanden waren).
Hinzu kam die paranoide, feindselige Atmosphäre einer immer härteren kommunistischen Diktatur zwischen 1945 und 1956. Verfolgt wurden das ehemalige Bürgertum, die Aristokratie, die Kulaken und die politischen Rivalen der Kommunist:innen. Nach 1956 wurde die Diktatur umgestaltet. János Kádár, Generalsekretär der sozialistischen Staatspartei, schloss einen paternalistischen Pakt mit der Gesellschaft. Als Gegenleistung dafür, dass sie sich aus den öffentlichen Angelegenheiten heraushielten, erhielten die Mitglieder der Gesellschaft eine Existenzsicherung und die Möglichkeit, finanziell auf einem Niveau zu prosperieren, das im Vergleich zu den Ländern des Ostblocks akzeptabel war (aber nicht mit dem Westen vergleichbar). Um materiellen Reichtum zu erlangen, mussten sie aber ein Leben der Selbstausbeutung führen. Dieser paternalistische Pakt verstärkte die gesellschaftliche Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass die Abweichung von der Normalität, die Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten und gesellschaftliche Solidarität das eigene Wohlergehen und mitunter sogar das Überleben bedrohen. Die Lehre aus der ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist, dass die Bösartigkeit der herrschenden Macht nur durch öffentliche Passivität und das Wohlwollen der Macht nur durch aktive Unterstützung des Systems vermieden werden kann. Mit anderen Worten: Der Schlüssel zum Überleben ist die – passive oder aktive – Loyalität gegenüber dem politischen System.
Das Hauptziel der heutigen ungarischen Erinnerungspolitik besteht darin, Ungarn als Opfer des 20. Jahrhunderts darzustellen und sich jeder nationalen Verantwortung gegenüber anderen zu entziehen. Das auffälligste Beispiel dafür ist das 2014 errichtete sogenannte “Denkmal für die deutsche Besatzung”. Das Denkmal stellt Ungarn als Opfer der Nazi-Besatzung von 1944 dar und verdeckt die Rolle, die der ungarische Staat und die ungarische Gesellschaft bei der Ausgrenzung der ungarischen Jüd:innen, die bereits vor 1944 begann und beim Holocaust gespielt haben.
Warum knien die ungarischen Fußballer nicht?
Die Ablehnung der knienden Geste wird von Premierminister Orbán unterstützt, weil sie zu seiner Ablehnung der „Dekadenz des Westens“ und seiner Vorliebe für die illiberalen Regime des Ostens als Vorbild passen. Er stützt sich dabei auf die historische Entwicklung und die dort gemachten Erfahrungen der ungarischen Gesellschaft, die sich von der des Westens unterscheidet. Seine Deutung, dass Rassismus die Angelegenheit der ehemaligen Kolonialmächte sei, passt gut in die offizielle ungarische Erinnerungspolitik und das Selbstverständnis eines großen Teils der ungarischen Gesellschaft. Es ist bemerkenswert, dass die Stimmen derjenigen, die das Niederknien als eine allgemeine antirassistische Geste begrüßen, in der ungarischen Öffentlichkeit kaum zu hören sind. Doch auch für die ungarische Gesellschaft wäre es von großer Bedeutung zu verstehen, was Rassismus oder strukturelle Diskriminierung bedeuten und wie sie sich auf diejenigen auswirken, die von der „Norm“ abweichen, wie die Romani oder sexuelle Minderheiten in Ungarn.
Rudolf Paksa (Historiker, Experte für die Geschichte der ungarischen extremen Rechten, tätig am Forschungszentrum für Humanwissenschaften [Budapest])
Róbert Balogh (Historiker, Experte für koloniales Südasien, PHD-Kandidat an der University Debrecen)