Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf die Rechte sexueller Minderheiten?
Seit dem russischen Angriffskrieg am 24. Februar verteidigt die Ukraine nicht nur ihre territorialen Grenzen. Als ein Staat, in dem Demokratisierungsprozesse noch nicht abgeschlossen sind, kämpft die Ukraine auch für eine demokratische Zukunft.
Dabei stellt der Krieg, ungeachtet seines Ausgangs, die bisherigen demokratischen Errungenschaften des Landes vor unmittelbare Herausforderungen. Mögliche Rückschritte, unter anderem auch in der Situation von marginalisierten Gruppen und im Zusammenhang mit Minderheitsrechten, sind nicht auszuschließen.
Waren beispielsweise LGBTQIA+ Rechte in der Ukraine bereits vor dem Krieg umkämpft, so befinden sich diese aktuell mehr denn je in Gefahr. Ein Blick auf die Situation von Rechten sexueller Minderheiten vor dem Krieg, ebenso wie auf die aktuellen Gefahren für deren Zukunft nach dem Krieg ist wichtig. Die Situation sexueller Minderheiten in der Ukraine veranschaulicht die Gefahren, welche die kriegerische Auseinandersetzung für zivile Kräfte bringen kann, deren Kampf für demokratische Werte seit vielen Jahren andauert.
Ukrainische LGBTQIA+ Community vor dem Krieg
Nachdem Homosexualität in der Ukraine im Jahr 1991, unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion, entkriminalisiert wurde, blieb das Anliegen bezüglich der LGBTQIA+ Rechte zunächst zwei weitere Jahrzehnte im Verborgenen. Die Zahl registrierter LGBTQIA+ Organisationen stieg zwischen 2010 und 2014 auf das Doppelte an. [1] Im Jahr 2012 fand die erste Pride Parade in Kyjiw statt. Seitdem hat sich die Bewegung rasant über die Grenzen der Hauptstadt hinaus entfaltet.
Die gesellschaftliche Akzeptanz von LGBTQIA+ ist nach wie vor stark verbesserungswürdig. Einer Umfrage des ZMINA Human Rights Centre nach, sprachen sich im Jahr 2020 etwa 41.8% der Befragten für eine Einschränkung von LGBTQIA+ Rechten aus, 3.2 % weniger als im Jahr 2018.
Letztes Jahr verliefen die landesweiten Pride-Paraden unter erhöhtem Polizeieinsatz – und das erste Mal gewaltlos. Das vielversprechende Gesetzesprojekt 5488, das hassbasierte Verbrechen an LGBTQIA+ kriminalisieren würde, sollte die Rechtslage revolutionieren. Auch das Projekt der gleichgeschlechtlichen Ehe, das im Kontext des Nationalen Aktionsplans 2021-2023 formuliert wurde, hatte realistische Chancen auf eine Umsetzung. Schließlich hatte die Bewegung in solchen Anliegen starke Partner wie die EU hinter sich, welche den nötigen Druck auf die ukrainische Regierung ausüben. [2]
Schattenseiten des Erfolgs
Dort, wo LGBTQIA+ Communities besonders sichtbar sind, erfahren diese die meiste Aggression und Diskriminierung. Im Jahr 2021 dokumentierte das Beobachtungsnetzwerk der Menschenrechtsorganisation Nash Mir insgesamt 131 Fälle von homo- und transphobisch motivierten Handlungen, Diskriminierung und anderen Verletzungen von LGBTQIA+ Rechten. Es ist anzunehmen, dass die Dunkelziffer drastisch höher ist, da weder Polizeistrukturen noch das Justizsystem auf die Verfolgung von Hassverbrechen an LGBTQIA+ ausgelegt sind. In der Regel wurden solche Verbrechen als Hooliganismus geahndet. Infolgedessen stellt für viele LGBTQIA+ Aktivist:innen Gewalt einen integralen Teil ihrer Arbeit dar.
Verantwortlich für die feindliche Umgebung, in der ukrainische LGBTQIA+ Organisationen operieren, sind neben passiven staatlichen Schutzmechanismen vor allem rechtsradikale Gruppierungen. Diese wehren sich mit aller Kraft gegen die LGBTQIA+ Bewegung, die in den Augen rechter Gruppen die nationale Identität, tradierte Familienbilder und Geschlechterrollen gefährdet.
Krieg als Gelegenheitsfenster für die extreme Rechte
Dass die Ukraine dem russischen Angriffskrieg bereits seit über einen Monat standhalten kann, liegt unter anderem an der hohen zivilgesellschaftlichen Bereitschaft, dem Staat bei der Verteidigung zu helfen. Viele haben sich bereits in den ersten Wochen beim Militär gemeldet, darunter viele Frauen und queere Personen.
Zur territorialen Verteidigung haben sich aber auch sogenannte „Nachbarschaftsbataillons“ organisiert. „Ich bin diesen zivilen Initiativen sehr dankbar, wirklich, aber was ich leider sehe ist, dass es nicht immer und nicht in allen Städten ein bewusster, bürgerlicher Aktivismus ist“, so Anna Leonova, Historikerin und ausführende Direktorin von Gay Alliance. Sie erklärt, dass einige dieser Initiativen, früher im Kontext rechter Gruppierungen bestanden: „Sie waren bereits vor dem Krieg ziemlich militarisiert. Nun haben sie ein sehr gutes Gelegenheitsfenster“.
Aktuell sind diese Gruppen mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Sie überwachen nicht nur die Sicherheitssituation in den Städten, sondern überprüfen an Kontrollpunkten Fahrzeuge, Autos – „quasi alles, was sich bewegt“. Dabei kontrollieren die Zuständigen nicht nur die Papiere, sondern auch Nachrichtenverläufe und Bilder auf Smartphones, um sicherzugehen, dass es keinen Kontakt zu den russischen Okkupanten gibt. In diesem Kontext bestätigt Gay Alliance bereits in den ersten drei Wochen des Krieges sieben Fälle von stark queer-feindlichem Umgang, als beispielsweise „Queers kurz vor Ausgangssperre an eine Gruppe bewaffneter Männer gerieten, die begannen von ‚Schwuchteln‘ zu reden, die sie nicht schützen müssen und die nicht hierhergehören“.
Die Aktivistin betont, dass es sich hierbei um Einzelfälle handelt, die sich keineswegs überall in der Ukraine so zutragen. Dennoch stellt sich für sie die Frage, was solche Fälle für die Zukunft der Ukraine bedeuten können – „nachdem die Ukraine den Krieg gewonnen hat“. Was passiert mit rechtsgesinnten Gruppierungen? Oder mit all den Waffen, die gerade im Land zirkulieren?
Denn „leider bedeuten Kriege oft eine Folgezeit, in der Homophobie auf dem Vormarsch ist, wo es eine Zunahme an Hassverbrechen gibt, und in der eine massive Maskulinisierung der Gesellschaft stattfindet“. Eine Beobachtung, die auch auf die Folgezeit der kritischen Ereignisse der Jahre 2013 und 2014 zutrifft. Der Zuwachs an rechten Gruppierungen und die damit einhergehende Gewalt gegenüber LGBTQIA+ waren hierbei unmittelbare Folgen.
Die losgetretene Gewaltspirale im Zuge des Euro-Maidans, bot umfassende Gelegenheitsstrukturen für rechtsgesinnte Akteure. Auch traten solche im Rahmen von paramilitärischen Freiwilligenbataillons für die territoriale Souveränität der Ukraine im Donbass ein. Später zeigten sich diese Freiwilligenbataillone äußerst widerwillig dabei, das Gewaltmonopol wieder dem Staat zu überlassen. [3]
Ausblick
Vor dem Krieg befand sich die Ukraine auf einem vielversprechenden Weg in der Umsetzung von Rechten sexueller Minderheiten. Seit dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs stellt dessen Beendigung selbstverständlich die größte Herausforderung für das Land dar. Dabei dürfen die diversen Facetten und Konsequenzen, die der Krieg für Menschenrechte und demokratische Standards mit sich bringt, jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Denn „die Probleme, denen die LGBTQIA+ Gemeinschaft als soziale Gruppe vor dem Krieg gegenüberstand, werden mit dem Ausbruch des Krieges nicht nur nicht verschwunden sein, sondern wieder größer werden“, so Anna Leonova.
[1] Bonacker, T., & Zimmer, K. (2020) The Localization of Sexual Rights in Ukraine. In Buyantueva R., Shevtsova M. (Eds.) LGBTQ+ Activism in Central and Eastern Europe (pp. 153-183). Palgrave. https://doi.org/10.1007/978-3-030-20401-3_7
[2] Martsenyuk, T. (2016). Gender equality situation in Ukraine: challenges and opportunities. [open access]
[3] Worschech, S. (2017). New Civic Activism in Ukraine: Building Society from Scratch? Kyiv Mohyla Law and Politics Journal 3, 23–45.