„Abtreibung ist ok!“ Aber nicht in Polen.
Was Frauenrechte angeht, erzielte Polen in vielen, vor allem ökonomischen Bereichen oft bemerkenswerte Ergebnisse. Es hat etwa einen der niedrigsten Gender Pay Gaps und eine der höchsten Quoten an Managerinnen aller OECD-Länder. Laut Weltbank verzeichnete das Land 2017 auch die niedrigste Zahl an Müttersterblichkeit weltweit. Im großen Gegensatz dazu steht das neue Abtreibungsgesetz: Es drängt Frauen in die Fremdbestimmung und wird sich, nicht nur auf die Sterblichkeit von Müttern negativ auswirken.
Das polnische Abtreibungsgesetz gehörte bereits vor 2020 zu einem der striktesten weltweit. Während in Zeiten der sozialistischen Volksrepublik Polen Schwangerschaftsabbrüche legal waren, waren sie ab dem Jahr 1993 nur in drei Fällen erlaubt: bei Gefahr für Leben oder Gesundheit der Frau, bei Begleitumständen beim Zustandekommen der Empfängnis (Vergewaltigung oder Inzest) oder aus embryopathologischen Gründen. Seit dem 27. Jänner 2021, dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung, ist der dritte Grund nicht mehr gegeben. Dabei sollen rund 97 Prozent aller Abtreibungen in Polen auf diesen Paragraphen zurückgegangen sein. Das Urteil wird in juristischen Kreisen weithin in Frage gestellt und auch die Helsinki Foundation for Human Rights macht in einer Stellungnahme deutlich, dass es sich um „eine eklatante Verletzung der Menschenrechte“ handelt. Denn auch bei Fehlbildungen müssen Frauen die Schwangerschaft austragen, was eine immense Gefahr bedeutet.
Vier Todesopfer zu viel
Bis heute bekannt sind mindestens vier Fälle von Frauen, die infolge der Untätigkeit der Ärzt*innen angesichts ernsthafter Komplikationen ihrer Schwangerschaften starben: die 34-jährige Justyna (November 2020), 30-jährige Izabela (Oktober 2021), 37-jährige Agnieszka (Jänner 2022), 36-jährige Marta (April 2022). Ihre Schicksale zeigen erschreckende Ähnlichkeiten: die Ärzt*innen führten aus Angst vor gesetzlichen Konsequenzen keinen Schwangerschaftsabbruch bei Lebensgefahr der Schwangerendurch, Fehlbildungen beim Fötus wären kein legaler Grund. Es ist davon auszugehen, dass viele Todesfälle gar nicht an die Öffentlichkeit geraten, da die Familien den Rechtsweg nicht einschlagen. „Wegen des Abtreibungsgesetzes muss ich liegen und die Ärzte können nichts tun.” schrieb Izabela und starb am nächsten Tag an Sepsis. Schwangerschaftsbedingte Sepsis hat verheerende Folgen für den Körper. Selbst wenn eine Frau überlebt, führt sie oft zur Unfruchtbarkeit.
Alleingelassene Schwangere
Eine weitere Gefahr für Schwangere und ihr Umfeld geht von der polnischen Gesetzeslage aus: Menschen, die sich an einem Schwangerschaftsabbruch beteiligen, können mit einer Haftstrafe bis zu drei Jahren rechnen. Schwangere selbst werden nicht zur Verantwortung gezogen, denn Schwangerschaftsabbruch an sich ist kein Verbrechen. Betroffen davon sind nicht nur Ärzt*innen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen, sondern auch die biologischen Väter, nahe Personen oder Aktivist*innen, die beispielsweise den Einkauf der Tablette für einen medikamentösen Abbruch im Internet übernehmen.
Somit können Schwangere nur schwer auf Hilfe vom Umfeld rechnen, ohne dieses in Gefahr zu bringen. Sie müssen die Abtreibung selbst organisieren und geheim halten, und das ist gesundheitlich riskant und psychologisch belastend.
Pathologischer Kontrollwunsch
Die Gesetzeslage wurde vor kurzem weiter verschärft: Am 6. Juli 2022 trat in Polen die Verordnung über das medizinische Informationssystem in Kraft, die Daten über eine vorhandene Schwangerschaft in der Gesundheitskartei vorsieht. Das Gesundheitsministerium argumentiert, dass es sich nicht um ein Kontrollinstrument handelt und ein „Schwangerschaftsregister“ nicht existiert. Es ist jedoch eine Möglichkeit, Frauen Angst vor den Konsequenzen zu machen, sollten sie sich für einen Abbruch entscheiden. Frauen* vor allem in kleineren Ortschaften könnten Angst vor einem sozialen Stigma der “vermeintlichen Kindertöterin” haben. Sollte im Register vermerkt ist, dass die Patientin nicht mehr schwanger ist, kann dies de facto keine rechtliche Folgen nach sich ziehen, was viele Frauen aber wohl nicht wissen.
Abtreibungsgesetz als Kulturkampf
Die Verschärfung des Gesetzes geht vor allem auf die konservativ-katholische Weltanschauung der Regierung zurück, die Abtreibung als sündhaft und moralisch falsch wahrnimmt. Eine zentrale Rolle nimmt hier die katholische Kirche ein, die einen großen Einfluss auf Politiker*innen ausübt und aktiv gegen die Abtreibung vorgeht. Des Weiteren sind Politiker*innen sehr besorgt über die sinkende Geburtenrate. Auf diese Herausforderung wird einerseits mit Mitteln wie der Einführung des Kindergeldes reagiert, andererseits aber mit radikalen Maßnahmen wie einem restriktiver werdenden Abtreibungsrecht oder Einschränkungen bei der „Pille danach“, die seit 2017 nur noch auf Rezept erhältlich ist. Paradoxerweise lehnt die Regierung die Finanzierung von In-Vitro-Fertilisationen ab, da diese in Widerspruch zur katholischen Lehre stünden.
Frauenrechte in Polen im internationalen Kontext
Polnischen Frauen, die im Ausland abtreiben wollen, macht es die Regierung nicht leicht, so hat etwa die polnische Botschaft in Prag Tschechien aufgefordert, Abtreibung für Polinnen zu verhindern. In einer schwierigen Situation befinden sich auch die im Krieg vergewaltigten Ukrainerinnen, die in Polen Schutz suchen. Wollen sie abtreiben, müssen sie beweisen, dass sie vergewaltigt wurden. Pro-Life Organisationen versuchen auch zu kontrollieren, ob es nicht zu Missbräuchen des Abtreibungsrechts unter Ausländerinnen kommt.
Zudem stehen weitere Frauenrechte in Gefahr. So überlegt die Regierung, aus der Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auszutreten. Den Zankapfel stellen Abtreibung und die Familiendefinition dar, die nicht mit dem durch die polnische Regierung tradierten traditionellen und konservativen Model übereinstimmt. Das polnische Justizministerium sendete einen Gegenvorschlag zur Konvention an mindestens vier Länder der Region. Für viele radikale Rechte weltweit stellt Polen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes ein Musterbild dar, das sie gerne in den eigenen Ländern replizieren würden wie z.B. in den USA, in der Slowakei oder in Ungarn.
Licht im Dunkeln
Im polnischen öffentlichen Diskurs ist das Thema Abtreibung wieder präsent, da Donald Tusk, der ehemalige Präsident des Europäischen Rates, erklärte, seine Partei, die Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) werde nach den Wahlen 2023 einer Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zustimmen bzw. diese aktiv vorantreiben. Eine Revolution für die weltanschaulich konservative Partei. Der Streit könnte sich nach den Parlamentswahlen im Herbst 2023 zuspitzen, denn während die Aktivist*innen des Polnischen Frauenstreiks bei ihren Demonstrationen „Abtreibung ist ok!“ rufen, gibt es im katholischen Polen viele gegensätzliche Stimmen. Nicht zuletzt die radikalen vom Ordo Iuris, die darin einen Mord an wehrlosen Kindern sehen. Eine Liberalisierung des derzeitigen Rechts ist also Zukunftsmusik.
In der Zwischenzeit bieten viele Polinnen den restriktiven Maßnahmen schon jetzt die Stirn: durch Informationenaustausch, landesweite Demonstrationen, Crowdfunding, rechtliche und finanzielle Unterstützung bei Abtreibung im Ausland und bei Gerichtsverfahren, mit denen Aktivistinnen und Frauen nach Schwangerschaftsabbrüchen rechnen müssen. Hier ist insbesondere die Tätigkeit von den „Tanten“ („Ciocia“) von Bedeutung. Es sind Organisationen, die Schwangerschaftsabbrüche im Ausland organisieren, wie z.B. Tante Wien-ia in Österreich, Tante Babsi in Deutschland oder Tante Czesia in Tschechien. Alle finanzieren sich durch Spenden und basieren auf ehrenamtlicher Arbeit. Diese Solidarität ist sowohl für die einzelnen Frauen als auch für die Gemeinschaft äußerst wichtig, denn beim Abtreibungsrecht haben die PiS-Regierung und die polnischen Pro-Life Organisationen noch nicht das letzte Wort gesagt. Polinnen bleibt es in Angst abzuwarten, welche Ideologien sie mit ihrem Körper austragen werden müssen. Jeder Widerstand – ob national oder international – wird gebraucht.
Magdalena Baran-Szołtys ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und forscht am Research Center for the History of Transformations (RECET) und am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien zu Ungleichheits- und Transformationsnarrativen sowie der Beziehung zwischen Literatur und Politik im Postsozialismus.
Malwina Talik ist ausgebildete Anglistin und Politikwissenschaftlerin. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Schwerpunkt Polen am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Wien sowie freiberufliche Forscherin und Übersetzerin.