Vereinter durch die Bedrohung von außen? Einstellungen in der Europäischen Union zur EU-Erweiterung
Der Ausbruch des russischen Kriegs in der Ukraine am 24. Februar 2022 hat Europa schlagartig verändert. Die völkerrechtswidrige Invasion Russlands brachte auch das Thema der europäischen Einheit und der Zugehörigkeit zur EU wieder verstärkt auf die Agenda. Sie hat zudem die öffentliche Meinung zur EU-Erweiterung – sprich der Frage wer gehört zur Europäischen Union – in vielen Mitgliedsstaaten maßgeblich verändert. Dies zeigt eine neue Studie zu einem traditionell erweiterungsskeptischen EU-Mitglied, den Niederlanden.
Stagnation der EU-Erweiterung am Westbalkan
Der Zugehörigkeit zur Europäischen Union wurde im Fall der Ukraine und auch der Republik Moldau durch das symbolträchtige Verleihen des EU-Kandidatenstatus für beide Länder am 23. Juni 2022 Nachdruck verliehen; ein Schritt der vor allem auch in den sechs sogenannten Westbalkan-Staaten, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien, aufmerksam verfolgt wurde. Die Länder in Südosteuropa haben bereits seit dem EU-Gipfel in Thessaloniki im Jahr 2003 eine EU-Beitrittsoption. So ist Nordmazedonien seit 2005 Kandidat für die EU-Mitgliedschaft, Serbien seit 2012, Albanien und Montenegro seit 2014, und Bosnien und Herzegowina seit Dezember 2022. Kosovo ist ein potentieller Kandidat auf eine EU-Mitgliedschaft.
Gerade da manche dieser Länder, allen voran Serbien, immer wieder mit der Nähe zum „slawischen Bruder“ Russland oder China kokettieren, standen beim kürzlich in Tirana abgehaltenen EU-Westbalkan-Gipfel am 6. Dezember 2022 unter anderem die „Stärkung der Sicherheit und der Widerstandsfähigkeit gegen Einflussnahme aus dem Ausland“ auf der Gipfel-Agenda. Somit verfolgt die EU in gewisser Weise auch das Ziel die EU-Integration auf weitere Länder auszudehnen, um die dortige Einflussnahme durch autoritäre Staaten zu zurückzudrängen.
Vermehrt Zustimmung in Europa zur EU-Erweiterung
In vielen EU-Mitgliedern gab es im Jahr 2022 einen Wandel in der öffentlichen Meinung zur EU-Erweiterung. Die Daten aus dem aktuellen Eurobarometer verdeutlichen, dass sich aktuell in den meisten EU-Staaten eine Mehrheit der Bevölkerung für eine Erweiterung ausspricht. Nur in Frankreich (Zustimmung 40 %) und Österreich (33 %), ist das nicht der Fall. Hier liegen die Zustimmungsraten deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 57 %.
Interessant ist dabei die Veränderung der Zustimmung seit vergangenem Winter. Hier zeigt sich in den meisten EU-Mitgliedern eine verstärkte Unterstützung zur Aufnahme weiterer Staaten. Dies gilt vor allem in den häufig als erweiterungsskeptisch eingestuften Ländern, wie den Niederlanden, Schweden oder auch Dänemark.
Woher kommt der Wandel?
Eine unlängst durch d|part, BiEPAG und EFB veröffentlichte, neue Studie zur öffentlichen Meinung zur EU-Erweiterung um die Westbalkan-Staaten in einem der traditionell erweiterungs-skeptischen EU-Mitgliedern – den Niederlanden – zeigt auf, dass dieser Wandel maßgeblich mit dem Krieg in der Ukraine zusammenhängt. Unter anderem deshalb, weil nun die Erweiterungspolitik nun viel stärker durch die geopolitische Brille gesehen wird, auch aufgrund der russischen oder chinesischen Einflussnahme auf die Westbalkan-Staaten.
Einstellung in den Niederlanden positiver, Erweiterung aber für viele kein wichtiges Thema
Die Studie untermauert die Ergebnisse des letzten Eurobarometers, was die Zustimmung zur EU-Erweiterung betrifft. Aktuell stehen 45 % der niederländischen Öffentlichkeit stehen der EU-Erweiterung um die Westbalkan-Staaten positiv gegenüber während 34 % sie negativ bewerten. Die restlichen 21 % sind sich unsicher.
Die Studie verdeutlicht auch, dass es gerade bei europapolitischen Themen wichtig ist, nicht nur die Zustimmung oder Ablehnung in der Bevölkerung gegenüber einem Thema abzufragen, sondern auch die Bedeutung der Frage für die Bevölkerung zu berücksichtigen. Im Fall der Niederlande ist das Thema der EU-Erweiterung um die Westbalkan-Staaten für die Mehrheit kein wichtiges Thema. 51 Prozent gehen davon aus, dass sich ihr Leben durch den Beitritt der Westbalkanländer zur EU kaum oder gar nicht verändern wird. 34 Prozent glauben, dass dies Auswirkungen auf ihr Leben haben wird, während sich der Rest hier auch unsicher ist.
Es bestehen durchaus Bedenken in der niederländischen Öffentlichkeit gegenüber einem Beitritt der Westbalkanstaaten, vor allem in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit, Bürgerrechte oder das niederländische Steuergeld, dass bei einem Beitritt auch in die Westbalkan-Staaten fließen würde. Wenn aber nach konkreten EU-Politikfeldern wie Sicherheits-, Außen- oder Wirtschaftspolitik gefragt wird, ist eine Mehrheit der niederländischen Bevölkerung überzeugt, dass diese EU-Politikfelder unverändert blieben oder sogar verbessert würden, wenn die Westbalkan-Staaten der EU beitreten.
Die generelle Wahrnehmung der EU in der Bevölkerung ist entscheidend
Die Studie macht auch deutlich, dass die Einstellungen der Bevölkerung zur EU-Erweiterung sehr eng mit der generellen Wahrnehmung der EU zusammenhängen. Jene, die eine EU-Erweiterung befürworten, nehmen die EU deutlich positiver wahr und haben auch vermehrt das Gefühl, dass die Niederlande gut in der EU vertreten wird. Zudem haben sie mehr Vertrauen in das nationale und das EU-Parlament im Vergleich zu den Erweiterungsskeptischen oder den Unsicheren.
Dem häufig zitierten Motto der niederländischen EU-Erweiterungspolitik „strict but fair“ (streng, aber gerecht) folgend legt die niederländische Bevölkerung großen Wert darauf, dass Kandidaten der EU beitreten sollen, wenn sie die Beitrittskriterien erfüllen. Selbst die Hälfte jener, die einer Erweiterung kritisch gegenüberstehen, stimmen dieser Aussage zu.
Die Studie zeigt aber auch, dass – obwohl die Erfüllung der Kriterien als wichtig erachtet wird – viele Menschen in den Niederlanden wenig über den EU-Erweiterungsprozess wissen. So ist sich beispielsweise nur knapp ein Drittel der niederländischen Bevölkerung bewusst, dass jedes Mitgliedsland ein Veto gegen einen Beitritt einlegen kann und die Entscheidung in der EU somit einstimmig ausfallen muss.
Die externe Bedrohung als Chance für die EU
Hier liegt es vor allen an von der europäischen Zusammenarbeit überzeugten Politiker:innen und Amtsinhaber:innen, aber auch Bildungseinrichtungen europapolitische Themen der Bevölkerung näher zu bringen. Ein für die Studie interviewter Politiker fasste dies zutreffend zusammen: „wenn die Europäische Union von der Öffentlichkeit unterstützt werden möchte, muss die Bevölkerung verstehen, wie die EU funktioniert“.
Die Gelegenheit für die europäische Idee zu werben und sich als Gegenentwurf zum russischen Vorgehen zu positionieren, ist aufgrund der externen Bedrohung so gut wie seit langem nicht. Selbst EU-erweiterungsskeptische Menschen in den Niederlanden waren für eine zukünftige EU-Erweiterung offener, da mehr Staaten in der EU – gemäß dem Motto „gemeinsam sind wir stark“ – auch mehr geopolitische Macht für die Europäische Union bedeuten.
Dieses Gelegenheitsfenster hat sich ohne großes Zutun der Europäischen Union aufgetan. Nun ist es an der EU und an ihren Mitgliedsstaaten dieses Fenster zu nutzen und durch eigenes Zutun, durch politische Maßnahmen im Sinne der europäischen Werte eine größere Unterstützung durch die Bevölkerung zu erlangen. Das diese Woche beschlossene Kürzen von EU-Geldern im Fall von Ungarn aufgrund des dort beschädigten Rechtsstaats ist eine solche Maßnahme, damit die EU auch in Zukunft ihre oft zitierten Werte glaubhaft vertreten kann und ein Gegenentwurf zu aggressiven, autoritären Staaten bleibt.