Durch den Krieg geeint? Zu den Wahrnehmungen von Sicherheitspolitik und Krieg in der Ukraine in der EU
Russlands Angriff auf die Ukraine hat die EU politisch geeint wie nie zuvor. Die EU-Mitgliedstaaten einigten sich auf umfangreiche Waffenlieferungen und Finanzhilfen für die Ukraine, verabschiedeten einstimmig zehn Sanktionspakete gegen Russland, änderten ihre Energiepolitik und stärkten eigene Verteidigungsfähigkeit. Die EU-Bürger:innen unterstützen diese Zeitenwende weitgehend. Es gibt aber wichtige Meinungsunterschiede zwischen Bürger:innenn in Ost- und Westeuropa, die einer langfristigen gemeinsamen Politik im Weg stehen könnten. Die repräsentative Bevölkerungsumfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung „Security Radar 2023“ zeigt dies anhand von Daten aus Polen, Lettland, Deutschland und Frankreich. Die Umfrage vergleicht die Einstellungen der Menschen unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges (Herbst 2021) und ein Jahr später (Herbst 2022).
Was die Bevölkerungen in der EU eint
Der Krieg hat die Wahrnehmungen in Ost- und Westeuropa einander nähergebracht. Große Mehrheiten in Polen und Lettland, aber auch in Deutschland und Frankreich haben Sorge vor Kriegen und Wirtschaftskrisen und sehen Russland als Gefahr für Europas Sicherheit. Sie halten einen Krieg zwischen dem Westen und Russland für möglich und haben große Angst vor einer nuklearen Eskalation. Dabei haben die Sorgen der Menschen in Frankreich und Deutschland im Vergleich zu der Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Krieges stark zugenommen – mitunter um 25-30%. Beide Länder haben sich somit Polen und Lettland angenähert, deren Bevölkerungen schon vorher sehr besorgt waren. Möglicherweise haben die Westeuropäer:innen heute ein größeres Verständnis für die Sicherheitsbedenken der Balten und Polen als noch vor dem Krieg.
Auch die sicherheitspolitische Lage bewerten die Menschen in Ost- und Westeuropa ähnlich. Gefragt nach den Interessengegensätzen zwischen verschiedenen Akteuren, sehen sie eine neue Blockbildung: China und Russland auf der einen Seite und USA und EU auf der anderen. Die meisten Befragten in allen vier Ländern halten die Beendigung des Kriegs in der Ukraine für eine Vorbedingung für die Sicherheit in Europa. Die meisten geben Russland die Schuld für den Krieg (70% und mehr).
Der Krieg wird in allen vier Ländern als eine bilaterale Angelegenheit zwischen Russland und der Ukraine im Kampf um Territorium gesehen, vor allem in Polen. Erheblich weniger Menschen sehen ihn als einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen oder als einen Kampf zwischen Demokratien und Autokratien. Gefragt nach dem möglichen Ausgang des Krieges, denkt die relative Mehrheit in fast allen Ländern, dass der Krieg nicht bald enden wird; nur in Lettland hoffen mehr Menschen auf den ukrainischen Sieg oder glauben an eine diplomatische Lösung.
Befragte in allen vier Ländern unterstützen Sanktionen gegen Russland und möchten die wirtschaftliche Verflechtung mit Russland verringern, selbst auf Kosten des eigenen Lebensstandards. Eine größere Unabhängigkeit der EU von der NATO sehen sie skeptisch. Große Mehrheiten in Ost- und Westeuropa wollen eine Fortsetzung oder sogar eine Vertiefung der EU-Zusammenarbeit mit der NATO.
Eine zentrale Gemeinsamkeit bei den polnischen, lettischen, deutschen und französischen Befragten ist deren Einstellung zur militärischen Hilfe für die Ukraine. EU Bürger:innen möchten der Ukraine helfen, wollen aber nicht in den Krieg hineingezogen werden. Die Frage der Waffenlieferungen polarisiert: Etwa die Hälfte begrüßen die Waffenhilfe, etwas weniger lehnen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Dafür gibt es bei allen eine klare rote Linie: keine Entsendung der eigenen Truppen in die Ukraine. In allen vier Ländern lehnen absolute Mehrheiten die Beteiligung am Krieg durch eigene Truppen ab, in Deutschland sogar 75%. Aber auch in Polen ist die Ablehnung mit 56% eindeutig.
Worin unterscheiden sich Bürger:innen europäischer Mitgliedstaaten?
Entscheidende Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa offenbaren sich bei den Lösungsansätzen in Bezug auf den Krieg sowie bei den Zielvorstellungen.
Konfrontiert mit der bewusst zugespitzten Frage, was wichtiger sei: den Krieg so schnell wie möglich zu beenden (selbst auf Kosten von territorialen Kompromissen) oder Russland für seine Aggression zu bestrafen (selbst auf Kosten der Fortsetzung des Sterbens), tendieren Menschen in Deutschland und Frankreich zur ersten Option. Dagegen sehen polnische und lettische Befragte keine einfachen Lösungen und antworten mehrheitlich „weder noch“.
Ein Knackpunkt für die europäische Sicherheit ist die potentielle Mitgliedschaft der Ukraine in der EU und in der NATO. Hier sind die Meinungsunterschiede zwischen Ost und West sehr deutlich, obwohl sich Einstellungen im Laufe des Kriegsjahres angenähert haben. Befragte in Lettland und Polen stimmen überwältigend für die ukrainische Mitgliedschaft in der EU und NATO. Menschen in Deutschland und Frankreich sind viel skeptischer; einen ukrainischen NATO-Beitritt lehnen die Deutschen nach wie vor mehrheitlich ab. Dieser entscheidende Meinungsunterschied schlägt sich in der offiziellen Position der entsprechenden Regierungen nieder und kann ausschlaggebend für die Entscheidung über den Beitrittsgesuch der Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Vilnius im Juli dieses Jahres sein.
Der Umgang mit China wird ebenfalls eine wichtige Rolle für die europäische Sicherheit spielen. Weniger als die Hälfte der Befragten sieht China als Gefahr, in Lettland sogar nur ein Drittel. Zudem zeigt der „Security Radar“, dass die Befragten in Osteuropa eine wohlwollendere Einstellung zu China haben als in Westeuropa und die Politik des wirtschaftlichen Abkoppelns weniger begrüßen.
Was heißt es für die europäische Sicherheit?
Das Gravitationszentrum der EU scheint sich durch den Krieg nach Osten zu verschieben – in Richtung Baltikum und Polen. Vor allem wird Polen für sich beanspruchen, eine größere Rolle in der zukünftigen europäischen Sicherheitspolitik zu spielen – ein Land, das zu den größten Unterstützern der Ukraine zählt, die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen hat und, laut dem „Security Radar“, als einziges sein Land durch den Krieg als gestärkt wahrnimmt.
Das europäische Führungstrio „Weimarer Dreieck“ (Deutschland, Frankreich, Polen) wird somit in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Wir haben gesehen, dass die Bevölkerungen der drei Länder viele Einstellungen teilen, aber auch entscheidende Differenzen aufweisen. Kann man darauf eine gemeinsame europäische Strategie bauen? Nur bedingt, weil wenig Vertrauen zwischen den Ländern herrscht. Nur jede(r) zehnte polnische Befragte traut Deutschland oder Frankreich zu, eine Führungsrolle in der EU zu übernehmen. Umgekehrt möchten nur 2-3% der Deutschen oder Franzosen eine polnische Führungsrolle sehen. Man glaubt zudem, dass das jeweils andere Land die gemeinsame Sicherheitspolitik eher blockiert, als aktiv voranbringt.
Entscheidende Meinungsunterschiede hinsichtlich der Beendigung des Krieges, der zukünftigen Zusammensetzung der EU und NATO, des Umgangs mit China und Russland finden ihre Entsprechung in unterschiedlichen Zielvorstellungen europäischer Regierungen. Sie werden zwar nicht offiziell eingestanden, sind aber durchaus hinter der gemeinsamen Linie „wir unterstützen die Ukraine, solange es nötig ist“ sichtbar. Sie reichen von der Herbeiführung des ukrainischen Sieges über die Vermeidung von Eskalation und Verteidigung der internationalen Ordnung bis hin zur nachhaltigen Schwächung (oder gar Zerschlagung oder „Dekolonisierung“) Russlands. Mittel zur Erreichung dieser Ziele sind oft ähnlich vage wie die Ziele selbst, man scheint sich auf die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang ist für die EU wichtig, ihre eigenen langfristigen Interessen und Ziele zu formulieren und möglichst geeint nach außen zu vertreten. Dies bedarf wiederum einer gemeinsamen Vorstellung über die europäische Sicherheitsordnung und dem zukünftigen Umgang mit Russland, das auf absehbare Zeit ein Gegner bleiben wird.
Ein Hoffnungsschimmer für eine gemeinsamen europäische Sicherheitspolitik ist das Vertrauen, das die Befragten dem „Weimarer Dreieck“ entgegenbringen. Ebenfalls wollen solide Mehrheiten in allen vier Ländern eine europäische Armee ausbauen, um auf Augenhöhe mit anderen Mächten zu sein. Zusammen mit der breit geteilten Zustimmung für die Erhöhung der Militärausgaben (im Falle Deutschlands in Abkehr von der jahrzehntelangen Ablehnung), könnte dies eine Grundlage für die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit sein.