Ostdeutschland – in Europa angekommen?

Ostdeutschland – in Europa angekommen?

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Schon Wochen vor den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern warnten Politiker und Journalisten vor einem Sieg der AfD (Alternative für Deutschland). Wolf Biermann und andere warnten zusätzlich vor dem gerade gegründeten BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht). Zwei populistische Parteien, die russlandfreundlich und migrantenfeindlich seien. Die Umfragen sahen die AfD etwa bei einem Drittel und das BSW stabil bei über 10 Prozent.

Das Ergebnis in Sachsen und Thüringen, wo diese Wahlen am 1. September stattfanden, bestätigten die Umfragen. Anders als bei den ersten Wahlen nach 1990 hatten die Befragten ihre tatsächliche Wahlabsicht trotz negativer Bewertung ihrer Wunschparteien offengelegt. Die AfD wurde in Thüringen mit fast einem Drittel der Listenstimmen klar stärkste Partei. In Sachsen erreichte sie mit knapp 31 Prozent fast genauso viele Stimmen wie die siegreiche CDU. Das BSW hatte 15,8 Prozent in Thüringen und 11,8 Prozent in Sachsen.

Der eigentliche Paukenschlag war jedoch das Abschneiden der Parteien, die in Berlin regieren: SPD, Grüne und FDP waren noch schwächer als bei den letzten Landtagswahlen: In Thüringen ist überhaupt nur die SPD (6,1 Prozent) ins Landesparlament hineingekommen, Grüne und FDP sind unter der Sperrhürde von 5 Prozent geblieben. In Sachsen erhielt die SPD 7,3 Prozent und die Grünen 5,1 Prozent, die FDP war nicht wahrnehmbar. Der CDU-Vorsitzende Merz nutzte das zur steilen These, seine Partei sei mindestens doppelt so stark, wie die Regierungsparteien zusammen. Dabei vergaß er zu erwähnen, dass die CDU in beiden Ländern immer schon sehr viel stärker als die gegenwärtigen Regierungsparteien war und die meisten Jahre dort auch allein regierte.

Faschismus und Stalinismus auf dem Vormarsch?

Über die Deutung der Ergebnisse von AfD und BSW wird in Deutschland gestritten. Die beiden Länderorganisationen der AfD wurden vom Verfassungsschutz als „erwiesen rechtsextremistisch“ bewertet. „Der Landesverband vertritt seit Jahren Positionen, die sich gegen die Menschenwürde, gegen das Demokratie- und gegen das Rechtsstaatsprinzip richten“[i]. Die CDU hat erklärt, dass sie mit der AfD keine Koalitionen bilden wird. Besonders prominent wird dabei der Thüringer Landesvorsitzende Björn Höcke kritisiert. Er wurde von einem Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er einen Spruch nutzte, den schon die SA verwendete: “Alles für Deutschland!” Die Wählerschaft der AfD wird verunglimpft, sie wird als nationalistisch, autoritätsgläubig dargestellt und es wird behauptet, sie würde sich durch ihre Sozialisation in der DDR-Diktatur zu dieser Partei hingezogen fühlen.

Gegen das BSW gab es eine Kampagne einer Gruppe von „ehemaligen Bürgerrechtlern“ der DDR. Die Kritik am BSW durch diese Gruppe kam folgendermaßen daher: Sahra Wagenknecht wurde als “Putinova” (Ilko-Sascha Kowalczuk) bezeichnet, als Freiheitsgefahr (Marianne Birthler), als Braut von Höcke (Wolf Biermann: “Wagenknecht und Höcke sind das Brautpaar der Stunde”), als “Lügnerin” und Vertreterin eines “nationalen Sozialismus” (Brief der “Bürgerrechtler” zum BSW). Natürlich wird auch nicht vergessen, den Beginn des politischen Engagements von Wagenknecht in der „kommunistischen Plattform“ zu erwähnen. Das passt zur Beschimpfung der Wählerschaft als autoritätsgläubig, weil ja in der DDR sozialisiert.

Man könnte meinen, in Ostdeutschland sei das Erbe von Hitler und Stalin gleichermaßen lebendig.

Was die Wähler der beiden Parteien zur Stimmabgabe bewegt hat

Zum einen zeigt die hohe Wahlbeteiligung von 74 Prozent, damit um ca. 10 Prozent höher als bei der letzten Wahl, dass es eine hohe Mobilisierung der Wähler gab. Man empfand eine konfliktgeladene Situation und wollte unbedingt seine Stimme abgeben. Das spricht doch für eine funktionierende Demokratie.

Die Beschimpfung der Wähler der AfD geht am Problem vorbei. Schon der Blick auf ihre soziale Zusammensetzung lässt daran zweifeln: 49 Prozent der Arbeiter in Thüringen haben laut Nachwahlbefragung von „Infratest Dimap“ AfD gewählt. In kleinen Gemeinden (Dörfern) ist die Partei besonders stark geworden. Sie wird von jungen Wählern (bis 24 Jahre) überdurchschnittlich häufig gewählt (in Thüringen von 39 % aus dieser Wählergruppe).

Die AfD wird von den Bürgern gewählt, die gegen den Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland sind und meinen, die AfD könnte dagegen etwas tun. 58 Prozent ihrer Wähler in Thüringen finden es gut, dass die Partei den Zuzug von Ausländern und Flüchtlingen stärker begrenzen will. Das ist ein wichtiger Punkt einer Kritik an der Bundesregierung. Generell sind sie der Meinung, dass die Regierungspolitik ihre Interessen schlecht oder gar nicht vertritt. AfD- und BSW-Wähler sind zu einem Teil Protestwähler. Sie wählen die Partei, die von den Herrschenden am deutlichsten kritisiert wird. 86 Prozent der befragten Wähler der AfD in Sachsen stimmten der Aussage zu, dass die Landtagswahlen eine gute Gelegenheit sind, der Bundesregierung einen Denkzettel zu verpassen. In Thüringen sind es 84 Prozent. 69 bzw. 72 Prozent der Wähler des BSW sind ebendieser Ansicht[ii].

In den Nachwahlumfragen in Thüringen wurden die BSW-Wähler gefragt, welche Aussagen ihren Ansichten über die Gesellschaft am besten entspricht: 83 Prozent meinten, dass man heute ausgegrenzt wird, wenn man bei bestimmten Themen seine Meinung sagt. 75 Prozent erklärten, dass sich der Staat mehr um die Menschen kümmert, die zu uns kommen, als um die Nöte seiner Bürger.  64 Prozent der BSW-Wähler konstatieren, dass sich die ärztliche Versorgung in ihrem Wohnort in den letzten Jahren verschlechtert hat. 68 Prozent der BSW-Wähler begrüßten es, dass diese Partei sich gleichzeitig für „mehr Soziales und weniger Zuwanderung einsetzt“[iii].

Wenn man versucht, diese Aussagen auf einen Punkt zu bringen, kann man sagen: Die beiden Parteien werden von Menschen gewählt, die sich in ihren Interessen durch die etablierte Politik nicht vertreten fühlen. Die massive Zuwanderung und die von ihnen so gedeutete Untätigkeit der Regierung ist ein wichtiger Punkt dabei. Gerade deshalb wählen sie „Paria“-Parteien. Und sie haben das Gefühl, ihre Sorgen werden nicht nur nicht gehört, sie sollten erzogen werden. Das ist gewiss keine demokratiefördernde Situation: Die Repräsentierten fühlen sich durch die repräsentative Demokratie nicht ernst genommen.

Annäherung an die europäische Normalität?

Wenn man die hier in Rede stehenden beiden Parteien als recht- und linkspopulistisch beschreibt (und die polemischen Begriffe und falsche historische Analogien weglässt), dann ergibt sich die Möglichkeit eines europaweiten Vergleichs. Er soll aber nur eine Anregung zur Diskussion sein und muss aus Platzgründen kurz ausfallen. In den meisten ost- und westeuropäischen Ländern haben in den vergangenen Jahrzehnten solche Parteien an Einfluss gewonnen oder sogar regiert. In Polen war es die PiS, die bis vor kurzem die Regierung führte. In den Niederlanden bildet die Partei von Geert Wilders zusammen mit anderen die Regierung. In Ungarn hat Fidesz seit 2010 jede Wahl gewonnen[iv]. In Italien regieren die „Fratelli d’Italia“ unter Meloni. In Finnland und Schweden sind rechtspopulistische Parteien direkt oder indirekt an der Regierungsbildung beteiligt. In der Slowakei regieren Linkspopulisten. In weiteren Ländern, u.a. in Frankreich, Tschechien, Griechenland, gibt es starke links- oder rechtspopulistische Parteien. Ihre Existenz lässt sich in der Regel nicht auf ein schwieriges historisches Erbe zurückführen, zumindest nicht allein darauf.

Da wäre es doch an der Zeit, genauer hinzuschauen, welche aktuellen Problemlagen den Aufstieg des Populismus bewirkt haben[v].

Die ostdeutsche Wählerschaft also auf dem Weg zu einer europäischen Normalisierung?! Wir sollten Erklärungen gegenüber skeptisch sein, die uns verleiten wollen, in der Gegenwart nichts als die bekannten Gefahren der Vergangenheit zu entdecken. Oder die Teile der Wählerschaft für ihre Sorgen als ewiggestrig denunzieren.


[i] Siehe den Bericht des MDR vom 14. März 2024: https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/afd-rechtsextremistisch-einstufung-verfassungsschutz-100.html

[ii] Siehe die Daten aus Bericht der „Tagesschau“: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-SN/umfrage-bundespolitik.shtml; https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-TH/umfrage-bundespolitik.shtml

[iii] Ebenda.

[iv] Fidesz hat durch Wahlrechtsänderungen und Medienmanipulation diese Mehrheit der Stimmen jeweils zu einer Zwei-Drittel-Mehrheit der Mandate ausgeweitet.

[v] Ich habe eine solche Analyse bezogen auf das post-staatssozialistische Osteuropa versucht in meinem Beitrag „Politische Kultur im Wandel? Der Populismus in Ostmitteleuropa und seine Vorgeschichte“, in: „1989 – eine Epochenzäsur?“ Hrsg. durch Martin Sabrow, Tilmann Siebeneichner und Peter Ulrich Weiß, Göttingen: Wallstein Verlag 2021, S. 74-86.

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