Kann Viktor Orbán abgewählt werden?

Kann Viktor Orbán abgewählt werden?

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Seit gut einem Jahr ist die ungarische Innenpolitik wieder spannend. Was lange Zeit undenkbar schien, geschah plötzlich: Eine neue Oppositionspartei überholte Viktor Orbáns Fidesz-Partei in den Umfragen. Doch ob Orbán bei den nächsten Parlamentswahlen im April 2026 tatsächlich abgewählt wird, hängt nicht nur von der Standhaftigkeit seines neuen Herausforderers, Péter Magyar, ab, sondern auch von einem Regime, das bislang erfolgreich rechtliche und wahltechnische Hürden errichtet hat, um seine eigene Abwahl zu verhindern.

Vom Fidesz-Insider zum Hoffnungsträger

Péter Magyars politischer Aufstieg begann mit einem Skandal, der in Ungarn für ein politisches Beben sorgte und letztlich zum Rücktritt von Staatspräsidentin Katalin Novák sowie Justizministerin Judit Varga führte. Im Februar 2024 wurde bekannt, dass Novák (zusammen mit Varga) einen ehemaligen Kinderheimdirektor begnadigt hatte, der zuvor wegen der Vertuschung eines Kindermissbrauchsfalls verurteilt worden war.

Inmitten dieser Affäre lud die unabhängige Online-Plattform „Partizán“ einen bis dahin wenig bekannten Gast zum Interview ein: Péter Magyar, den Ex-Ehemann von Judit Varga. Er hatte zuvor mit einem kritischen Facebook-Posting gegen das Orbán-Regime für Aufmerksamkeit gesorgt. Als ehemaliger Fidesz-Insider mit guten Verbindungen zum Machtapparat der Regierung wollte Magyar zunächst lediglich die politischen Zustände in Ungarn kritisieren – ohne eigene Ambitionen, eine Oppositionsbewegung zu gründen.

Doch er blieb nicht bei diesem Vorsatz. Am 15. März 2024 verkündete er bei einer Großdemonstration in Budapest, mit einer eigenen Partei bei den Europaparlamentswahlen anzutreten. Da jedoch die Frist für die Registrierung einer neuen Partei knapp bemessen war und seine Teilnahme an der Wahl gefährdet hätte, übernahm Magyar kurzerhand die bislang unbedeutende Partei „Respekt und Freiheit“. Deren ungarische Abkürzung „Tisza“ entspricht dem Namen des Flusses Theiß.

Bei den Europaparlamentswahlen erreichte Magyars Partei auf Anhieb fast 30 Prozent der Stimmen und landete damit auf Platz zwei hinter Orbáns Fidesz-Partei, die mit 44,8 Prozent eines ihrer schlechtesten Ergebnisse einfuhr. Das Resultat war nicht nur eine deutliche Warnung an Fidesz, sondern auch eine Abrechnung mit den etablierten Oppositionsparteien. Im November 2024 gelang Magyars Partei schließlich ein historischer Durchbruch: In den Umfragen überholte sie erstmals Fidesz – seither führt sie in sämtlichen Erhebungen der nicht regierungsnahen Institute.

Catch-all-Opposition

Obwohl Péter Magyar in der Parlamentsgruppe der Europäischen Volkspartei sitzt, vermeidet er eine ideologische Festlegung. Er lehnt es ab, sich als rechts oder links zu definieren, und verfolgt stattdessen eine populistische Strategie: Probleme benennen und pragmatische Lösungsansätze anbieten, ohne sich in ideologischen Debatten zu verlieren.

Magyars Ziel ist es, möglichst viele oppositionelle Wähler*innen hinter sich zu vereinen – insbesondere jene, für die der Regimewechsel Vorrang vor der inhaltlichen Ausrichtung einer neuen Regierung hat. Diese Wählerschaft ist zwar heterogen, doch Magyar kann sich auf breite Unterstützung verlassen, da es an einer anderen glaubwürdigen Alternative mangelt. Laut Umfragen hätten aus der bisherigen Opposition nur die linksliberale Demokratische Koalition des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány sowie die rechtsextreme Mi Hazánk (Unsere Heimat) eine Chance, nächstes Jahr wieder ins Parlament einzuziehen.

Doch für einen Wahlsieg reicht die Mobilisierung der Opposition allein nicht aus. Magyar muss auch Fidesz-Wähler*innen für sich gewinnen – eine Hürde, an der frühere Oppositionsparteien gescheitert sind. Daher meidet er bewusst umstrittene Themen, etwa eine klare Positionierung im Ukraine-Krieg, die in Ungarn keine Mehrheiten findet. Auch die EU-Mitgliedschaft der Ukraine genießt in der ungarischen Bevölkerung wenig Rückhalt, weshalb Magyar diese Frage aus seinem Diskurs weitgehend ausklammert.

Strategisch positioniert er sich in Rhetorik und Symbolik rechts von den bisherigen, meist linken oder liberalen Oppositionsparteien. Er versucht, Orbáns Illiberalismus mit einem eigenen, populistischen Ansatz zu überbieten und greift gezielt auf nationalistische Symbolik zurück, um sich nicht der regierungsnahen Propaganda auszusetzen, die ihn als „kosmopolitisch“ diffamieren könnte. Von außen betrachtet mag Magyar als Nationalist erscheinen, doch im ungarischen Kontext geht es ihm darum, die Deutungshoheit über den Begriff „Nation“, den die ungarische Rechte traditionell für sich beansprucht, zurückzugewinnen. Bereits 2005 erklärte Orbán, dass die Linke stets gegen ihre eigene Nation agiere, sobald sie an die Macht komme. Während Orbán seinen „Freiheitskampf“ gegen die Linke und die Europäische Union führt, interpretiert Magyar den Nationalismus als einen Befreiungskampf von der Orbán’schen Oligarchie.

Kann Magyar überhaupt gewinnen?

Im ungarischen Wahlsystem reicht es nicht, einfach die stimmenstärkste Partei zu werden – die Parlamentsmehrheit entscheidet sich in 106 direkt gewählten Wahlkreisen. Um dort erfolgreich zu sein, braucht Péter Magyar nicht nur eine breite Wählerbasis, sondern auch bekannte und beliebte Kandidat*innen in jedem Wahlkreis. Und hier liegt ein entscheidender Vorteil von Fidesz: Orbáns Partei ist selbst in den kleinsten Dörfern tief verankert, verfügt über ein starkes Netzwerk und kann sich auf die „Überzeugungsarbeit“ lokaler Machtträger*innen aus Politik und Wirtschaft verlassen. Magyars Partei hingegen bleibt bislang eine One-Man-Show.

Allerdings hat der Aufbau der Tisza-Partei bereits begonnen. Überall im Land – und sogar in Österreich unter den mehr als 100.000 hier lebenden Ungar*innen – entstehen sogenannte „Tisza-Inseln“, die als Keimzellen einer festen Parteistruktur dienen sollen. Dennoch konnte Magyar bislang nur eine prominente Persönlichkeit für sein Projekt gewinnen: den ehemaligen General der ungarischen Armee, Romulusz Ruszin-Szendi. Für die Auswahl der Kandidat*innen in den 106 Wahlkreisen setzt Magyar auf Online-Abstimmungen, wie bereits bei den Europawahlen.

Doch die größte Herausforderung für Magyar lässt sich auf eine grundlegende Frage zuspitzen: Ist Ungarn überhaupt noch eine Demokratie, in der die Regierung durch Wahlen abgewählt werden kann? Politikwissenschaftler*innen sprechen in solchen Fällen oft von einer „elektoralen Autokratie“ – einem System, in dem Wahlen lediglich die bestehenden Machtverhältnisse bestätigen.

Auch in Ungarn sind die Voraussetzungen für faire und demokratische Wahlen, wie auch die OSZE feststellte, nur formell gegeben. Die weitgehende Ausschaltung von Kontrollmechanismen, die staatliche Medienkontrolle und die Möglichkeit – und mehrfach gezeigte Bereitschaft – der Regierung, Verfassung oder Wahlgesetz nach eigenen Interessen zu ändern, verdeutlichen, wie schwierig oder gar unmöglich ein Machtwechsel durch Wahlen sein könnte. Selbst wenn Magyar die meisten Stimmen erhält, bleibt fraglich, ob dies auch zu einem Regierungswechsel, geschweige denn einem Regimewechsel, führen würde.

Der Regierungswechsel hängt davon ab, ob Magyar nicht nur die Mehrheit der Stimmen, sondern auch die meisten Wahlkreise gewinnen kann. Fidesz hat aber die Zahl der Wahlkreise in der traditionell oppositionellen Hauptstadt Budapest verringert. Zudem ist es in einem Land, in dem 70-80 Prozent der Medien direkt oder indirekt unter Regierungskontrolle stehen, schwierig, Menschen außerhalb der größeren Städte zu erreichen. In den Propagandamedien der Fidesz wird Magyar ständig mit Fake News kritisiert und als „Agent von Manfred Weber“ bezeichnet. Auch in Orbáns Rhetorik lässt sich eine Radikalisierung erkennen: In einer Rede im Februar erklärte er den NGOs und den unabhängigen Medien den „Krieg“ und will mit einer Verfassungsänderung sogar ermöglichen, Doppelstaatsbürger*innen aus Ungarn auszuweisen, sollten sie „eine Gefahr für die nationale Sicherheit“ darstellen. Der Wahlkampf wird also brutal. Aber auch wenn Magyar die Wahlen im April 2026 gewinnen kann und Orbán seine Niederlage akzeptieren würde, ist ein veritabler Regimewechsel nur mit einer Zweidrittelmehrheit möglich, andernfalls könnte eine neue Regierung die Verfassung nicht ändern. Zudem besteht die Gefahr, dass der Orbánsche „Deep State“, der in der Wirtschaft und der Verwaltung fest verankert ist und trotz eines Regierungswechsels weiterbestehen könnte, jegliche Änderungen vereiteln würde.

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