Hat der NATO-Gipfel vom Juli 2016 tatsächlich „historische Entscheidungen“ getroffen?
Die Beschlüsse des “historischen”[i] NATO-Gipfels in Warschau führen die Beschlüsse vom Gipfel vor zwei Jahren in Wales fort. Dort war die schnelle Reaktionsfähigkeit des Militärbündnisses erhöht worden, indem die „NATO Responce Force“ von 19 auf 40 Tsd. Mann angehoben sowie die Schnelligkeit einer Gruppe von 5 Tsd. Soldaten, die als Speerspitze (spearhead) der NATO bezeichnet wurde, vergrößert wurde. Die USA stationierten Luftlandegruppen in Europa und für weitere Truppen Kriegsmaterial (u.a. 250 gepanzerte Fahrzeuge) im Gebiet von ehemaligen Warschauer Vertragsstaaten. Schließlich wurde die militärische Infrastruktur für eine schnelle Truppenverlegung eingerichtet und die Zahl der Manöver deutlich erhöht[ii]. In Warschau wurde nun beschlossen, 4 Tsd. Soldaten direkt in den baltischen Staaten und Polen zu stationieren, die allerdings, mit Rücksicht auf die mit Russland vereinbarten Ziele, nicht mit permanentem sondern rotierendem Personal ausgestattet werden sollten. Mit der Ukraine wurden bisher nicht näher definierte Unterstützungsleistungen (Comprehensive Package of Assistance) vereinbart[iii].
Diese Beschlüsse wurden international unterschiedlich aufgenommen. Die ukrainische politische Klasse war einerseits zufrieden, andererseits bedauerte sie die erneute Absage an eine NATO-Mitgliedschaft des Landes, der polnische Verteidigungsminister Antoni Macierewicz nannte den Gipfel „a turning point in the history of the alliance“[iv]. Das russische Verteidigungsministerium formulierte dagegen: „Contrary to the objective interests in maintaining peace and stability in Europe […] the Alliance concentrate its efforts on deterring a non-existent threat from the east“[v]. Die deutsche Sozialdemokratie wies darauf hin, dass der Gesprächsfaden zu Moskau nicht abreißen darf. In diesem Sinne fand nach dem NATO-Gipfel ein Treffen des NATO-Russland-Rats statt. Aber auch in Deutschland gibt es andere Stimmen, so warnt Josef Joffe in „DIE ZEIT“ davor, Russland zu sehr entgegenzukommen und kritisierte Sigmar Gabriel, der im Angesicht der Beschlüsse von Warschau für eine Abrüstungsinitiative plädierte. Joffe weist auch Außenminister Steinmeier zurück, der im Zusammenhang mit einem Großmanöver in Polen vor zu viel Säbelrasseln gewarnt hatte: die NATO würde – verglichen mit Russland – eher mit „Obstmessern“ hantieren[vi].
Suche der NATO nach neuem Sinn
Die Begründung für die NATO-Aufrüstung im Osten ist: Russlands aktuelle Politik. Man kann immer wieder lesen, es gehe um die „völkerrechtswidrige Annexion der Krim“ und die russische „Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine“; oder wie John Herbst, der ehemalige US Botschafter in der Ukraine sagte: „We face a serious problem in a revanchist Kremlin“[vii]. Genauer betrachtet allerdings hat die Vorwärtsbewegung der NATO und die Konfrontation mit Russland eine etwas vor das Frühjahr 2014 hinausreichende Geschichte.
Die NATO war nach dem Ende des Kalten Kriegs auf der Suche nach einer neuen Aufgabe, denn sie war 1949 gegründet worden, um der sowjetischen Bedrohung (west-)europäischer Staaten entgegenzutreten. Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Die sowjetische Führung hatte im Februar 1948 einen Umsturz in Prag initiiert und sich auch in Polen nicht an Abmachungen gehalten, die Macht zwischen kommunistischem und bürgerlichem Widerstand zu teilen. Die östliche Seite gründete 1955 den Warschauer Vertrag als Gegenstück zur NATO.
Der Kalte Krieg bewegte sich manchmal am Rande des heißen und wurde weltweit ausgetragen. Die atomare Rüstung erlebte einen Höhepunkt nach dem nächsten. Auch in Afghanistan, in Afrika und in Mittelamerika wurde dieser Lagerkonflikt ausgetragen. Erst mit den Reformen von Gorbatschow wurden die Spannungen abgebaut, eine Ära der Abrüstung begann. Die Mittelstreckenraketen wurden abmontiert, die Atomsprengköpfe von 63 Tsd. 1986 auf 9200 reduziert[viii]. Auch die in Europa stationierten konventionellen Truppen beider Seiten wurden deutlich vermindert, von den Panzer des Warschauer Vertrages (200 Tsd.) blieben 17 Tsd. (die der NATO wurden von 43 Tsd. auf 19 Tsd. vermindert). 1991 löste sich der Warschauer Vertrag auf. Die sowjetischen Truppen wurden aus Osteuropa zurückgezogen, die USA-Militärpräsens in Deutschland wurde erheblich reduziert. Das wäre eigentlich eine gute Zeit gewesen, um über eine andere, weniger einseitig auf Militärblöcke orientierte Sicherheitsarchitektur nachzudenken.
Das geschah allerdings nicht. 1992 wurden „out-off-area“ Einsätze der NATO beschlossen und (mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrates geplant). Der Luftkrieg gegen Serbien 1999 im Rahmen des Kosovo-Krieges erfolgte allerdings ohne diese Zustimmung. Ab 1997 begann eine Erweiterungsrunde der NATO nach Osten. Im selben Jahr wurde den Bedenken Russlands dadurch begegnet, dass zwischen NATO und Russland eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik vereinbart wurde, aus der 2002 der NATO-Russland-Rat hervorging.
Die nachfolgenden Entwicklungen in der Zeit der Präsidentschaft von George Bush jun. waren nicht besonders geeignet, die Beziehungen zu Russland positiv zu entwickeln: 1999 traten die ersten drei ehemaligen Warschauer Vertragsstaaten der NATO bei, 2004 folgten sieben weitere Staaten (darunter, als erster post-jugoslawischer Staat, Slowenien), 2009 Albanien und Kroatien. 2006 wurde die Einrichtung einer Raketenabwehr in Polen und Tschechien beschlossen, die von Russland als Bedrohung wahrgenommen wurde.
Russlands Militärdoktrin von 2010
Die neue Militärdoktrin, die sich Russland 2010 gab, fiel also nicht vom Himmel. In ihr wurde die NATO als wichtigste Bedrohung definiert:
“The main external military dangers are (8): a) the desire to endow the force potential of the North Atlantic Treaty Organization (NATO) with global functions carried out in violation of the norms of international law and to move the military infrastructure of NATO member countries closer to the borders of the Russian Federation, including by expanding the bloc”[ix].
Das alles gehört zur Vorgeschichte der Spannungen zwischen Russland und der NATO.
Mir scheint, die angespannte Situation ist auch gegenwärtig nicht allein durch Russlands Rolle in der Ukraine-Krise bestimmt, sondern sie hat viele Ursachen. Die atomaren Waffen werden durch beide Seiten modernisiert. An der zähen Erfüllung des Minsker Abkommen trägt neben der russischen auch die ukrainische Politik ihren Teil der Verantwortung. Die instabile Lage und die Kriege im Nahen Osten, für die der Westen eine Mitverantwortung trägt, sind ein wichtiger Faktor. In Warschau wurden ja auch dazu Beschlüsse gefasst, die allerdings nicht viel an der Misere ändern werden. Dazu kommen weitere gefährliche Krisenherde wie der im Südchinesischen Meer. Die nach wie vor instabile Weltwirtschaft befeuert das Gefühl einer unklaren Zukunft. Das alles führt dazu, dass der Frieden nach 1989 noch nie so gefährdet war wie jetzt.
Was wirklich nötig wäre
Im Zentrum des Problems steht die geringe Bereitschaft die Sicherheitsinteressen der jeweils anderen Seite zu berücksichtigen. Es fehlt eine weltweite Sicherheitsarchitektur, die anders als die NATO nicht im Verdacht einer einseitigen Interessenvertretung des Westens steht. Die Chance auf ihre Gründung wurde nach dem Ende des letzten kalten Krieges vertan. Man kann nur hoffen, dass eine neue Chance auf eine funktionsfähige und allseits anerkannte Sicherheitsstruktur nicht erst nach einem neuen kalt-heißen Krieg entsteht. Die Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen könnte ja auch der Beginn eines Umdenkens sein. In der neuen Ostpolitik Ende der 1960er Jahre gab es das ja schon einmal.
[i] So der NATO-Secretary-General Stoltenberg, siehe den Beitrag von B. Whitmore in RFE/RL vom 9. Juli 2016, http://www.rferl.org/content/beyond-warsaw/27849128.html (gelesen am 14.7.16).
[ii] Siehe W. Richter: Rückversicherung und Stabilität, swp aktuell Nr. 41, Juli 2016 sowie R. L. Glatz/M. Zapfe: NATO-Verteidigungsplanung zwischen Wales und Warschau, swp aktuell 95, Dezember 2015.
[iii] Siehe den Pressebericht des Weißen Hauses vom 9.7.16: https://www.whitehouse.gov/the-press-office/2016/07/09/fact-sheet-us-and-nato-efforts-support-nato-partners-including-georgia (gelesen am 15.7.16).
[iv] Siehe den Beitrag in Endnote i.
[v] See RFE/RL: Moscow slams NATO for focussing on ‚nonexistent‘ Russia threat, http://www.rferl.org/content/Moscow-says-nato-focussing-on-nonexistent-Russia-threat/27850119.html (gelesen am 14.7.16).
[vi] J. Joffe „General Gabriel“, in „DIE ZEIT“ vom 14. Juli 2016, S. 12.
[vii] Zitiert aus dem Bericht in Endnote i.
[viii] Vgl. die Grafik NATO in „DIE ZEIT“ vom 30. Juni 2016, S. 38.
[ix] See the new military doctrine of Russia, approved by Presidential Decree at February 2010, http://www.sras.org/military_doctrine_russian_federation_2010 (gelesen am 14.7.16).