Neuer Autoritarismus und regierungskritische Proteste in Ungarn seit 2010

Neuer Autoritarismus und regierungskritische Proteste in Ungarn seit 2010

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Seit den Parlamentswahlen 2010 regiert Fidesz überwiegend mit einer verfassungsgebenden Zwei-Drittel-Mehrheit. Man kann dieses politische Regime als Mehrheitsdemokratie mit hegemonialem Parteiensystem charakterisieren, in welchem die Menschenrechte mitunter von einem „Law and Order“- Politikverständnis her interpretiert werden und einige der europäischen Werte, Praktiken, Institutionen und Prozesse unter Druck geraten sind. Die autoritäre Wende in Ungarn hat allerdings noch keine neue autoritäre Diktatur entstehen lassen.[i] Das zeigt sich auch daran, dass weiterhin eine pluralistische Medienlandschaft existiert. Protest und ziviler Ungehorsam kann öffentlich geäußert werden.

Seit 2010 hat sich im ungarischen Parteiensystem links von der Mitte keine starke Alternative zur rechten Politik entwickelt. Es sind aber neue politische Bewegungen entstanden, bzw. frühere Bewegungen revitalisiert worden, die sich gegen die hegemoniale Partei (Fidesz) und deren Politik entwickelt haben. Diese sind durch diese Politik herausgefordert worden und wurden dabei teilweise von europäischen Bewegungsnetzwerken unterstützt. Dabei muss gleich zu Beginn festgestellt werden, dass es auch eine ungarische Bürgergesellschaft gibt, die die Politik der Regierungsmehrheit durch Aufrufe und Märsche unterstützt, vor allem die „Civil Összefogás“ [Zivile Verbundenheit]. Der nachfolgende Text konzentriert sich aber auf den Überblick über die seit 2010 auftretenden, vielseitigen Formen des Protestes gegen die Regierung in Ungarn.

Proteste von Frauenbewegungen

Die Proteste entzündeten sich an „sexistisch-patriarchalischen“ Skandalen von Regierungspolitikern, ihren Beratern oder von Abgeordneten der Regierungspartei. Es handelte sich dabei entweder um direkte Gewalt gegen Frauen oder um abschätzige Bemerkungen gegenüber Frauen. Aussagen, die ein konservatives Frauenbild sichtbar machten, in dem Frauen ausschließlich als Mütter von möglichst vielen Kindern, ohne jegliche öffentliche bzw. berufliche Aufgaben verstanden werden. Darauf reagierten verschiedene, sogar bisher gar nicht protestorientierte Fraueninitiativen in Form von öffentlichen Proteste, Kundgebungen und von den Medien unterstützten phantasievolle Aktionen. Als beispielweise ein Abgeordneter von Fidesz nach einer Hochzeit betrunken seine Frau verprügelte, erklärte dieser ihre Verletzungen damit, dass seine Frau über ihren erblindeten Hirtenhund („komondor“) gefallen war. Empörte Feministinnen prangerten anschließend die Unkultur von Fidesz an, indem sie das Bild des blinden Hirtehundes („vak komondor“) aufgriffen und auf Fidesz bezogen. Der Abgeordnete musste inzwischen sein Mandat zurückgeben und verbüßt aktuell seine entsprechende Freiheitsstrafe.

LGBT-Proteste („Gay Pride” in Budapest) und ihre Widersacher

Seit zwanzig Jahren findet Anfang Juli in Budapest der Marsch von LGBT AktivistInnen und ihren AnhängerInnen statt. Diese öffentlichen Demonstrationen der Schwulen- und Lesbenbewegungen haben sich in Ungarn vor allem in der Hauptstadt Budapest und einigen weiteren Großstädten seit dem Systemwechsel entwickelt. Kritik daran wurde vorwiegend durch rechte und konservative Parteien geäußert. Das Unverständnis in großen Teilen der Bevölkerung gegenüber der „Gay-Pride“-Parade begünstigte die Gegner der Proteste. Diese konservativen und mitunter rechtsextremen Gegenbewegungen wollten die Veranstaltung stören oder, wenn möglich, verhindern. Besonders aktiv waren dabei Gruppen aus dem Umkreis der rechtsradikalen Jobbik-Partei, die inzwischen verbotene „Ungarische Garde“, beziehungsweise ihre Nachfolgeorganisationen sowie unterschiedliche kirchliche oder konservative gesellschaftliche Organisationen, welche sich zu diesem Zweck zu einem Bündnis zusammenschlossen.

Angesichts der Störungen stand die Polizei vor der Aufgabe, die legalen und friedlichen Kundgebungen der LGBT-Gruppen vor gewaltsamen Protesten zu schützen. Die ungarische Polizei hat in den letzten Jahren deshalb ihre Taktik schrittweise verändert, indem sie die Parade stärker von den Gegendemonstranten trennte und die öffentliche Kommunikation verbesserte. 2015 und 2016 gab es keine ernsten Zwischenfällen mehr. Die Gay Pride hat sich unter den verschiedenen Veranstaltungen der Festivalkultur von Budapest behauptet. In diesem Jahr nahmen etwa 20000 Menschen daran teil.

Die Bewegung zum Schutz der Obdachlosen (”A Város Mindenkié”-„Eine Stadt für alle”)

In Ungarn kam es in den letzten Jahren zu einem Zuwachs an Obdachlosen. Ihre Zahl kann nur geschätzt werden, es sind sicher ca. 10000 bis 15000. Dennoch führte dies beispielsweise in Budapest nicht zu Hausbesetzungen. Die Fidesz-Regierung wollte die frühere sozialliberale Politik, die Obdachlosen Unterstützung gewährte, beenden. Dabei wurde eine Zeit lang versucht, die Verantwortung für die Obdachlosigkeit den lokalen Verwaltungen zuzuschieben. Letzten Endes aber wurde Obdachlosigkeit für illegal und zum strafbaren Vergehen erklärt. Obdachlose hätten kein Recht – so die Argumentation – den öffentlichen Raum für ihre privaten Zwecke zu missbrauchen.

Es gab Initiativen, wie „A Város Mindenkié“ [ii] („Eine Stadt für alle“), die sich gegen diese Politik mit Aktionen des zivilen Ungehorsams gestellt haben. Diese Menschenrechtsinitiativen existieren seit der Wende und sind gut vernetzt. Sie treten für unterschiedliche benachteiligte Bevölkerungsgruppen ein. So halfen sie marginalisierten Gruppen, ihre Rechte durchzusetzen wie etwa PatientInnen (u.a. in der Psychiatrie), Sinti und Roma sowie Asylsuchenden und ImmigrantInnen. Andere Initiativen wurden beispielsweise für die Verbesserung der Lage von Kindern und von GefängnisinsassInnen aktiv. Die Zahl solcher Menschenrechtsinitiativen ist nicht allzu groß, aber die wenigen etablierten Initiativen arbeiten professionell, mitunter mit Hilfe von engagierten JuristInnen. Sie verfügen zudem über gute internationale Kontakte und sind Teil von internationalen Netzwerken. Solidarität besteht zwischen allen Bewegungen, die für die Aufrechterhaltung der Grundrechte in Ungarn kämpfen. Rechte, die durch die aktuelle Regierung gefährdet sind, da sie eine selektive Anwendung eben dieser Rechte verfolgt.

Studentenbewegungen (Herbst/Winter 2013)

Die neue Hochschulpolitik der Fidesz-Regierung im Jahr 2012 hat umfassende Studierendenproteste mobilisiert. Die Regierung erhöhte die Studiengebühren und führte eine Verpflichtung für Studierende ein, nach ihrem Studienabschluss längere Zeit in Ungarn zu arbeiten. Im Herbst und Winter 2013 sowie dem anschließenden Frühjahr haben sich deshalb stürmische Proteste an den ungarischen Hochschulen und Mittelschulen entwickelt. Bis auf die Besetzung von Räumen an der Budapester Eötvös-Loránd-Universität sind die Proteste aber danach wieder abgeflaut. Das ursprüngliche Gesetzesvorhaben wurde etwas abgemildert, aber dennoch implementiert.

Politisierung der Umweltbewegung: grüne Parteien in Ungarn („Lehet Más a Politika“ [Politik kann anders sein]; „Párbeszéd Magyarországért“ [Ein Dialog für Ungarn])

Während in anderen postkommunistischen Länder sich die Grünen früher parteipolitisch organisiert haben, hat sich die Etablierung einer politisch bedeutsamen grünen Partei in Ungarn bis 2010 verzögert.[iii] Dies ist teilweise durch den Mangel von entsprechenden Konflikten – in Ungarn gab es nie eine größer angelegte Anti-Atomkraft-Bewegung – teilweise durch die starke rechts-links-Polarisierung des ungarischen Parteiensystems zu erklären. LMP, die erste grüne Partei verpasste es zwar in den Europawahlen 2009 Sitze zu erwerben, wurde aber mit 2,61% der Stimmen erstmals öffentlich sichtbar. Bei den Parlamentswahlen 2010 überschritt LMP mit 7,48% zum ersten Mal die 5% Hürde und erhielt 5 Sitze im Parlament. Bei den nächsten Parlamentswahlen 2014 gewannen sie zwar nur 5,34% der Stimmen, erhielten aber aufgrund des neuen Wahlmodus ganze 17 Mandate. Dieser überraschend hohe Wert verdeutlicht die Strategie von Fidesz, den Wahlmodus von einem Mehrheits- zu einem Verhältniswahlrecht zu verändern. Das Ziel, die Opposition weiter zu fragmentieren, war somit erfolgreich. Das neue Wahlgesetz bevorzugt unter anderem kleine Parteien, weshalb seit 2014 drei sozialistische und zwei grüne Parteien im Parlament sitzen. Die zweite grüne Partei (Párbeszéd Magyarországért/PM), die sich 2013 von LMP abspaltete, bildete mit den drei sozialistischen Parteien und dem Überbleibsel der Liberalen ein Bündnis um Orbán und Fidesz zu stürzen. PM schaffte es mit neun Mandaten ins Parlament, das Wahlbündnis erhielt 27,6 % der Stimmen und sogleich 61 Sitze. Damit gibt es innerhalb des Parlaments zwei, teilweise konkurrierende, grüne Parteien, die die Anliegen der Umweltbewegungen vertreten. Ob das längerfristig so bleiben wird, muss abgewartet werden.

Die Grünen versuchten eine neue Protestkultur von zivilgesellschaftlichem Charakter zu repräsentieren. Sie tragen den Protest gegen die hegemoniale Partei in das Parlament hinein, nehmen gegen Gesetzesinitiativen der Regierungspartei Stellung. Fidesz hat darauf mit einer Verschärfung der Parlamentsregeln reagiert, wobei sie versuchte dieses Vorgehen dadurch zu legitimieren, dass sie sich gegen das angebliche „Theater“ im Parlament aussprach.

Die grünen Parteien und ihre Netzwerke kämpfen auch außerhalb des Parlaments gegen die Verletzung der Menschenrechte, gegen die Gefährdungen der Umwelt, für die Verteidigung der Demokratie und gegen Regierungskorruption. Sie sind damit Teil einer breiten Koalition von zivilgesellschaftlichen Bewegungen. Zu dieser gehört die von Bürgerbewegungen ins Leben gerufene „Szolidaritás“ [Solidarität], eine sozial orientierte Protestbewegung [iv] und „Milla“ [Eine Million Bürger für die Pressefreiheit], eine Bewegung, die sich gegen Regierungsinterventionen in die Tätigkeit der Medien aussprach.[v] Diese Bündnisse der Zivilgesellschaft haben sich mit Sozialisten, Grünen (PM) und anderen Bürgerbewegungen zu einem Wahlbündnis („Együtt“ [Zusammen]) für die Parlamentswahlen im Jahr 2014 zusammengeschlossen. Als dieses Bündnis bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nicht den gewünschten Erfolg erzielte, sind die Bürgerbewegungen ebenfalls fast völlig in sich zusammengebrochen.

Rechtsradikale Protestbewegungen und die Partei „Jobbik“

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hat sich die radikale politische Rechte [vi] gegen Fidesz organisieren können. Sie sind in den Europawahlen 2009 und den Parlamentswahlen 2010 (16,7 %) und 2014 (20,2 %) in die Parlamente gekommen. Ihr politischer Erfolg war deutlich größer als der der ungarischen Grünen. Für diese Gruppen ist ein anderes Verständnis von Demokratie und Bürgerrechten charakteristisch: ihrer Auffassung nach muss der Nationalstaat, die nationale Kultur und deren Autonomie gegen Europäisierung und Globalisierung, individuelle Autonomie, Demokratie und Menschenrechte verteidigt werden. Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit ziehen sich mehr oder weniger offen durch ihre Programme und Publikationen. Ihre öffentlichen Aktionen sollen die EU provozieren, beispielsweise durch die Verbrennung der EU-Flagge oder deren Wurf aus den Fenstern des ungarischen Parlaments.

Ausblick

Nach dem Wahljahr 2014 und der Niederlage der Opposition der linken Mitte haben sich neue Themen und Protest-Typen entwickelt. Die ungarische Zivilgesellschaft ist nach wie vor sehr ausdifferenziert, trat aber der Regierung gegenüber bisher nicht geschlossen entgegen. Es gibt keinen umfassenden zivilen Konsens und keine umfassende Organisation, die die neuen Proteste bündelt. Allerdings nutzen alle Bewegungen und Proteste die neuen Kommunikationstechnologien. Zwischen den vor allem in den Großstädten lebenden jungen, hochgebildeten Akteuren der Proteste und den etablierten DissidentInnen sowie Oppositionsparteien gab es vielfältige Diskussionen, aber bisher nicht die erwartete Netzwerkbildung.

Dies kann man mitunter daran erkennen, dass bei den neueren Demonstrationen gegen die Vorhaben der Regierung wie die Einführung einer Internetsteuer, die Auflösung der privaten Rentenversicherungen, die Pläne zur Gestaltung des Heldenplatzes oder auch gegen Korruptionsskandale keine einheitliche Bewegung, keine Partei oder auch kein Verband als Veranstalter auftrat, sondern nur Personenkomitees beziehungsweise kleinere Gruppierungen. Allerdings nehmen dann auch etablierte Organisationen wie Gewerkschaften an den Kundgebungen teil.[vii] Dennoch tauchen bisher nur Namen von Individuen und kleinen Gruppierungen auf, die gegen die Regierungspläne formal protestieren, was als Symbol für die aktuelle Fragmentierung gelten kann.

[i] Bozóki, András (2015): Broken Democracy, Predatory State, and Nationalist Populism, in: Péter Krasztev and Jon Van Til (eds.): The Hungarian Patient, Social Opposition to an Illiberal Democracy. Central European University Press, Budapest; New York, 3-37.

[ii] Siehe Bencze, Bertalan Barnabás, Gábor Illés and András Varga (2013): A Város Mindenkié mozgalom [Die Stadt ist für die Bewegung aller], in: Replika 84/3, 65-85.

[iii] Vgl. Tóth, András (2015): The Rise of the LMP Party and the Spirit of Ecological Movements, in: Péter Krasztev and Jon Van Til (eds.): The Hungarian Patient, Social Opposition to an Illiberal Democracy. Central European University Press, Budapest; New York, 231-62.

Mikecz, Dániel (2015): Changing movements, evolving parties – the party oriented structure of the Hungarian radical right and alternative movement, in: Intersections. East European Journal of Society and Politics 1/3, 101-19.

[iv] Siehe Boris, János and György Vári (2015): The Road of the Hungarian Solidarity Movement, in: Péter Krasztev and Jon Van Til (eds.): The Hungarian Patient, Social Opposition to an Illiberal Democracy. Central European University Press, Budapest; New York, 181-207.

[v] Vgl. Petőcz, György (2015): Milla: A Suspended Experiment, in: Péter Krasztev and Jon Van Til (eds.): The Hungarian Patient, Social Opposition to an Illiberal Democracy. Central European University Press, Budapest; New York, 207-31.

[vi] Siehe dazu Tóth, András and István Grajczár (2015): The Rise of the Radical Right in Hungary, in: Péter Krasztev and Jon Van Til (eds.): The Hungarian Patient, Social Opposition to an Illiberal Democracy. Central European University Press, Budapest; New York, 133-67.

[vii] Vgl. dazu Szabó, Andrea and Dániel Mikecz (2015): After the Orbán-revolution: the awakening of civil society in Hungary? in: Geoffrey Pleyers and Ionel N. Sava (eds.): Social Movements in Central and Eastern Europe. A renewal of protests and democracy. EUDB, Bucharest, 34-44.

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