Demokratie und die Staatsvereinnahmung in Polen
Seit 2015 wird Polen von der nationalkonservativen PiS-Regierung mit Unterstützung des Präsidenten Andrzej Duda regiert. Die Regierung hat seit Dezember 2015 eine Reihe von systemischen Reformen eingeführt, die vor allem das Gerichtssystem des Landes zu verändern suchen. Das offizielle Legitimationsnarrativ spricht von notwendigen Reformen zwecks Abschaffung der sich angehäuften Schwachstellen des Staatsapparates in Polen. Selbst wenn tatsächlich ein Reformbedarf vieler Bereiche der Staatstätigkeit in Polen dringlich erscheint, ist wohl das wirkliche Motiv der Reformen das Bestreben nach radikalem Elitenwechsel, der durch dauerhafte institutionelle Maßnahmen flankiert werden soll. Die strukturellen und personellen Veränderungen am Verfassungsgericht, die Zwangspensionierung der Richter am Obersten Gericht (teilweise aufgehalten durch den EuGH), die Wahl politischer Opportunisten an Landgerichten (teilweise anstelle von inkompetenten Richtern, was die Sache allerdings nicht besser macht) betreffen die Schlüsselfrage nach der „Demokratie zwischen den Wahlen“ und in Polen nach demokratischen Rückschritten (in der Politikwissenschaft auch demokratische Entkonsolidierung genannt) trotz demokratischer Wahlen. Dabei werden die PiS-Reformen im In- und Ausland heftig kritisiert, vor allem im Hinblick auf die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit und wegen ihrer kaum zu bestreitenden Ähnlichkeit mit dem ungarischen Abgleiten in die illiberalen Demokratie, die in Ungarn immer stärker durch Chauvinismus, Populismus und Nepotismus geprägt ist.
Die polnische Demokratie auf dem Prüfstand
Da die Unabhängigkeit der Gerichte einen Anker jeder repräsentativen Demokratie darstellt, ist die Politisierung der Gerichtsbarkeit durch das Einsetzen von Parteiloyalisten ein ernsthaftes Problem für die demokratische Glaubwürdigkeit von Polen. Damit geht eine weitere Frage einer: Wie konnte Polen als ehemaliger Musterschüler der Demokratisierung (neben Ungarn) nun zum vermutlich am meist kritisierten EU-Mitglied werden? Diese Frage wurde in den letzten Jahren zu selten gestellt, denn das Gros der Transformationsforschung fokussierte sich auf institutionellen Wandel als Schlüssel der demokratischen Konsolidierung. Dieser Trend wurde im Laufe der EU-Osterweiterung noch verstärkt, als Polens demokratische Glaubwürdigkeit (und den anderen Visegrad-Staaten) vor allem am Fortschritt bei der Übernahme des Acquis communautaire der EU gemessen wurde und weniger an der Tiefenwirkung der Demokratisierung selbst.
Globaler Trend oder polnischer Sonderweg?
Es gibt zwei mögliche Antworten auf die Frage der demokratischen Entkonsolidierung in Polen. Die eine geht davon aus, dass wir gerade eine weltweite demokratische Rezession erleben und Polen ein Teil dieser Entwicklung ist. Dieser globale Schwund der Demokratie betrifft auch Demokratien wie die USA und Großbritannien und macht eben auch keinen Halt vor Transformationsgesellschaften, was zuletzt in Brasilien deutlich wurde.
Yasha Mounk folgt dieser Logik in seinem Buch „The People vs. Democracy“ (2018), indem er argumentiert, dass Populismus und die Unterstützung der jungen Menschen (geboren nach 1980) für nichtdemokratische Regierungsformen in letzten Jahren radikal gewachsen sind. Damit erleben wir einen Trend, bei dem Gesellschaften demokratischer Staaten immer weniger demokratiebegeistert sind. Die Ursachen dafür sind komplex und reichen von Enttäuschungen über sozioökonomischen Output demokratischer Systeme bis zum Silicon Valley-Syndrom, bei dem technologiebegeisterte junge Menschen an die Wirkungskraft von wohlwollenden Diktatoren à la Steve Jobs glauben.
Damit würde Polen zum globalen Trend gehören, der in den letzten Jahren die USA (mit Donald Trump und seinen Post-Truth-Handlangern), Großbritannien (mit Boris Johnson und anderen Brexit-Populisten), Frankreich (mit Front National oder wie auch immer der aktuelle Name der Partei klingt), Deutschland (mit der AfD, die sich nicht im Klaren ist, ob sie Neonazis ausschließen oder umgarnen sollte), Österreich (mit der FPÖ, die die Außenpolitik des Landes als die eines Vasallenstaates des Kremls definiert) oder Italien (wo norditalienische und süditalienische Populisten zueinandergefunden haben, und zwar gegen die These von Robert Putnam über das demokratische Primat Norditaliens) erfasst hat. In dieser Konfiguration erscheinen die polnischen Nationalkonservativen um Jarosław Kaczyński als Mitglieder derselben populistisch-autoritären Familie, die sich gern als die wahre Stimme des Volkes darstellt.
Illiberale Demokratien in Mitteleuropa
Was allerdings Mounks Argument verkennt, ist die Tatsache, dass einige der demokratischen Entkonsolidierungstendenzen nicht unbedingt zu neuen Autokratien führen und dass die Entwicklungen in der Türkei (wo Journalisten in Schauprozessen als Terroristen angeklagt und verurteilt werden) und in Russland (wo die Gesellschaft durch politische Auftragsmorde terrorisiert und Wahlen gefälscht werden) nicht unbedingt mit denen in Ungarn und Polen gleichzusetzen sind. Hinsichtlich der illiberalen Entwicklungen in Mittelosteuropa gibt es deshalb eine alternative Erklärung. In Polen und Ungarn haben wir mit einem Trend zur illiberalen Demokratie zu tun, der zwar mit Verletzung der rechtstaatlichen Standards zwischen den Wahlen einhergeht (was schlimm genug ist), aber keine systematische Einschüchterung der Opposition und keine Wahlfälschung betreibt (noch nicht, wie einige Pessimisten sagen). Die demokratische Legitimation wird nach wie vor durch die PiS und die Fidesz durch Wahlen gesucht und durch die regierungsfreundliche und nationalistische Propaganda in den staatlichen Medien (weitgehend vergleichbar mit Fox News oder den Sputnik-Medien) herrschaftstechnisch stabilisiert. Hinzu kommt die Förderung des politischen Opportunismus durch großzügige Postenvergabe in Unternehmen im Staatsbesitz und eine klerikal-nationalistische Ideologie, die besonders in der ostpolnischen Provinz (aber nicht nur) auf fruchtbaren Boden trifft und an die Symbiose des Kremls mit der russischen orthodoxen Kirche erinnert. In Wirklichkeit geht es aber weniger um die Ideologie oder Propaganda selbst, die nur Mittel zur Machtstabilisierung sind. Die polnische (und die ungarische) Entwicklung ergibt sich vielmehr aus der Spezifik der Transformationsprozesse in der Region, vor allem daraus, wie die aufeinanderfolgenden Regierungen mit staatlichen Institutionen nach 1989 umgingen. Was genau ist also faul im Staate Polen?
Problem „State Capture“
Die Antwort darauf lautet „State Capture“, also die Vereinnahmung des Staates durch Akteure mit beschränkter demokratischer Legitimation. Der Begriff stammt zwar aus der Forschung über Russland und die Ukraine, in der finanzstarke Akteure der Transformationszeit die Institutionen des Staates kolonialisierten und diese an den wirtschaftlichen Interessen der Oligarchen ausrichteten. Ein Paradebeispiel von „State Capture“ war die Ukraine zur Präsidentschaftszeit von Wiktor Janukowytsch (2010-2014), wo die ukrainischen Oligarchen und das kleptokratische Regime Janukowytschs in einem symbiotischen Verhältnis florierten (bis diese Symbiose durch den Euromaidan aus den Fugen geriet). Für Polen und Ungarn trifft diese Art von Staatsvereinnahmung weniger zu, weil gerade diese Länder kaum oligarchische Akteure in der Transformationszeit (anders als z.B. Tschechen und Lettland) vorzuweisen hatten. Deshalb unterscheidet man mittlerweile in der politikwissenschaftlichen Debatte zwischen „Corporate State Capture“ und „Party State Capture“, wobei es bei der letzteren um die Kolonialisierung der staatlichen Institutionen durch eine Partei oder mehrere Parteien geht, die infolge ihrer Machtübernahme nicht nur die Chefetagen der zentralen Institutionen des Staates (wie z.B. die Zentralbank oder das Verfassungsgericht) und Staatsmedien ausfegen und ihre Loyalisten einsetzen, sondern auch diese staatliche Institutionen nach den politischen Bedürfnissen der Regierungsparteien (und diese betreffen vor allem die Wiederwahl) ausrichten. Mit dieser Unterscheidung lassen sich die Länder der Region entsprechend klassifizieren. Während Polen, Ungarn und Litauen Beispiele der Party State Capture sind, stellen die Slowakei, die Tschechische Republik und Lettland Fälle des Corporate State Capture dar, bei dem oligarchische Akteure Einfluss auf politische Entscheidungsfindung haben und die Kolonialisierung von staatlichen Institutionen suchen. Ein Paradebeispiel dafür ist der jetzige Premierminister der Tschechischen Republik Andrej Babiš, der einer der reichsten Männer des Landes ist und mit seiner populistischen Partei ANO den Staat wie eine Firma leiten möchte.
Polens PiS-Regierung verwendet die Party State Capture-Logik der früheren Regierungen. Die Logik der Kolonialisierung ist in dieser Hinsicht nicht präzedenzlos, denn dieser folgte auch die Vorgängerregierung von PO (Bürgerplattform) und PSL (Bauernpartei) in 2007-2015. So hat z.B. die PSL (als Juniorpartner in der Koalition) unterschiedliche Agenturen des Staates, die für die Landwirtschaft zuständig waren, vereinnahmt und diese wie Familienbetriebe bzw. Privatvereinte geführt, was immer wieder durch Korruptionsskandale bekannt wurde. Was jedoch nach der Machtübernahme durch die PiS in dieser Hinsicht neu wurde, ist das Ausmaß der Kolonialisierung sowie die fehlenden Hemmungen vor Verletzungen der rechtstaatlichen Standards. Die PiS hat ähnlich wie die Fidesz in Ungarn nicht nur das Verfassungsgericht und die Zentralbank kolonialisiert, sondern auch die Staatsverwaltung, kleinere Firmen im Staatsbesitz, lokale Radiosender, die bis in den Mittelbau hinein mit loyalen (und zugleich oft inkompetenten) Apparatschiks besetzt wurden. Dies würde möglicherweise gar nicht so stark ins Gewicht fallen, wenn die PiS keinen Elitenwechsel im Gerichtssystem Polens vorgenommen hätte. Denn damit erhöht sich die internationale Sichtbarkeit im Hinblick auf die Veränderung der Staatsstrukturen.
Die Unterscheidung zwischen „Party State Capture“ und „Corporate State Capture“ ist hilfreich, da sie auch erklärt, warum die Logik der Party State Capture in der Öffentlichkeit auffallender ist. Während Polens Reformen des Gerichtssystems im Augenblick zu einem der wichtigsten Themen der EU geworden sind, debattiert kaum jemand die problematische Verquickung finanzieller und politischer Macht in Tschechien. Es liegt daran, dass Corporate State Capture nicht an Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung interessiert ist und die Unterwanderung der staatlichen Institutionen im Geheimen betreibt. Diese bleiben zwar auf der Oberfläche demokratisch, werden aber dennoch durch die Anpassung an die Partikularinteressen der Oligarchen kolonialisiert. Die Fälle von Party State Capture hingegen zeigen, dass die kolonialisierenden Parteien eher bestrebt sind, die formalen Institutionen des Staates zu ihren Gunsten zu modifizieren, was kaum im Verborgenen passieren kann. Der Unterschied zwischen den beiden Typen von Staatsvereinnahmung ist zwar die Öffentlichkeitswirksamkeit, aber nicht das Ausmaß der Gefahr für die Demokratie, das in beiden Fällen gleichermaßen ernst bleibt. Diese Gefahr geht allerdings mit zwei unterschiedlichen Risiken einher. Bei „Corporate State Capture“ scheinen die einschlägigen Indizes zur Messung der Demokratiequalität (wie z.B. das Freedom House Index) hilflos zu sein, weil sie die Unterwanderung der Demokratie durch Oligarchen kaum erfassen. Bei „Party State Capture“ sind die Entwicklungen zwar sichtbar, werden aber international kaum bekämpft, weil die EU lange nicht willens (bei Ungarn seit 2010) oder unfähig (bei Polen wegen des unwirksamen Soft-Law-Verfahrens seit 2016, das nur auf Empfehlungen der Europäischen Kommission basierte) war, dagegen vorzugehen.
———————–
Das Titelbild zeigt den Sitz des Obersten Gerichts in Warschau. Quelle: Wikicommons