EU Wahl: Warum ist die Wahlbeteiligung in den östlichen Mitgliedsländern so niedrig?

EU Wahl: Warum ist die Wahlbeteiligung in den östlichen Mitgliedsländern so niedrig?

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Die Wahl zum Europäischen Parlament 2019 ist geschlagen und die Aufarbeitung derselben ist im vollen Gange. Neben dem geringer als erwartet ausgefallenden Erfolg rechts-populistischer Parteien oder dem überraschend starken Ergebnis einzelner Parteien, wie beispielsweise der Sozialisten in Spanien oder der Grünen in Deutschland, wurde vor allem der Anstieg der Wahlbeteiligung in den Mitgliedsstaaten positiv hervorgehoben.

Niedrige Wahlbeteiligung im Osten?

Bei der Betrachtung der Wahlbeteiligung fällt jedoch auf, dass es erneut einen großen Unterschied zwischen west- und osteuropäischen Mitgliedern gibt. So liegt 2019 nur Litauen über dem EU-Durchschnitt und sieben der zehn Länder mit der niedrigsten Wahlbeteiligung liegen in Zentral- und Osteuropa (siehe Grafik 1). In Kroatien, Tschechien, Slowenien und der Slowakei lag die Beteiligung jeweils unter der 30 Prozent Marke. Interessieren sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Ländern also weniger für die EU als in anderen Mitgliedsstaaten?

Grafik 1: Vorläufige Wahlbeteiligung bei der Wahl zum Europäischen Parlament 2019 (in %)

So einfach ist diese Frage nicht zu beantworten, wie auch die zweite Grafik zeigt. So stieg in nahezu allen zentral- und osteuropäischen Ländern die Wahlbeteiligung 2019 im Vergleich zur letzten Wahl 2014. Die Ausnahme stellt Bulgarien dar. Besonders starke Zuwächse zeigen sich in Polen, Rumänien, Tschechien und Ungarn.

Grafik 2: Wahlbeteiligungen bei der Wahl zum Europäischen Parlament seit 2004 (in %)
* Die Beitritte zur EU von Bulgarien und Rumänien erfolgten 2007, Kroatien folgte 2013.

Von der Zunahme auf eine gestiegene Begeisterung für das Europäische Parlament zu schließen wäre allerdings zu einfach, da – wie auch in manchen westeuropäischen Ländern – die Gründe vor allem innenpolitischer Natur sind. So konnte der klare Wahlsieger in Ungarn, die Fidesz-Partei von Viktor Orbán, offensichtlich mit seinem Anti-Migrations- und Anti-EU-Tenor die Bevölkerung vermehrt mobilisieren. In Rumänien wurde hingegen die zunehmend unbeliebter werdende Regierungspartei PSD abgestraft und zudem fand am Wahltag ein von Präsident Johanis initiiertes Referendum zur Korruptionsbekämpfung statt, was zusätzlich die Wahlbeteiligung der Rumäninnen und Rumänen im In- und Ausland erhöhte.

Generelle und regionalspezifische Effekte bei der Wahlbeteiligung

Generell gilt bei Wahlen zum Europäischen Parlament das Prinzip der „zweitrangigen Wahl“ (second-order election). Dieses Prinzip besagt unter anderem, dass die Wahlbeteiligung bei europäischen Wahlen niedriger ausfallen als bei nationalen. Dies ist bis auf wenige Ausnahmen (Litauen und Rumänien) auch in den östlichen Mitgliedsstaaten der Fall. In den meisten Fällen liegt die Beteiligung bei der EU-Wahl um rund 25 Prozent unter der Beteiligung bei der letzten nationalen Wahl (siehe Grafik 3). Die vergleichsweise niedrige Wahlbeteiligung ist dementsprechend auch auf einen EU-weiten Trend zurückzuführen.

Grafik 3: Vergleich der Wahlbeteiligungen bei nationalen und europäischen Parlamentswahlen (in %)

Gleichzeitig fällt aber auf, dass die Wahlbeteiligung ganz allgemein in den östlichen Mitgliedsstaaten deutlich geringer ausfällt als in den meisten westeuropäischen Staaten. Dies lässt sich auf verschiedene regionalspezifische Gründe zurückzuführen: das Erbe des Staatssozialismus, die Effekte der Transformation seit 1989 und die Rolle der östlichen Mitgliedsstaaten innerhalb der Europäischen Union.

Erbe des Staatssozialismus und Transformationserfahrungen

Auch wenn das Ende des Staatssozialismus 30 Jahren zurückliegt, so zeigt sich in der politikwissenschaftlichen Forschung ein Fortbestehen des Erbes dieser formal kommunistischen Regime, beispielsweise bei der Wahlbeteiligung oder auch politischen Einstellungen. Die dominante Position der Partei in den Gesellschaften, die Unterdrückung und in Teilen Bekämpfung von kritischen Stimmen haben zu den negativen Erfahrungen der Bevölkerung zu dieser Zeit stark beigetragen. Wahlen fanden zwar statt, waren aber nicht frei. Dies führte auch zum verstärkten Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber politischen Institutionen und Eliten, welches nach den Umbrüchen 1989 nur kurz durchbrochen werden konnte. Eine große Begeisterung gepaart mit (zu) hohen Erwartungen an das neue politische und wirtschaftliche System in der Bevölkerung führten bei den ersten freien Wahlen in den meisten Ländern zu einer extrem hohen Wahlbeteiligung zwischen 85 und 95 Prozent.

Die Euphorie über die Umbrüche verflog allerdings schnell und Frustration und Ernüchterung machte sich breit. In der Politikwissenschaft wird dieser Effekt auch der „demokratische post-Flitterwochen-Effekt“ („democratic post-honeymoon effect“) genannt. Dies lässt sich an dem sinkenden Glauben an eine Lebensverbesserung durch Demokratie, sowie am hohen Maß an Korruption und Klientelismus festmachen.

Die kollektive Enttäuschung bezieht sich auch auf die ausbleibende ökonomische Entwicklung, denn die Transformation brachte für den Großteil der Bevölkerung nicht die erwünschte Verbesserung der (materiellen) Lebensbedingungen. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die Lücke zwischen „Ost“ und „West“ zwar im Laufe der Zeit geringer wurde, allerdings liegen die östlichen Mitglieder immer noch deutlich hinter den westlichen Mitgliedern. Zum anderen führte die ungleiche Verteilung des ehemaligen Staatseigentums und mitunter undurchsichtige Privatisierungsmethoden desselben zu klaren Gewinnern und Verlierern der Transformation. Sinkende politische Beteiligung lässt sich auch durch den starken Abbau des Wohlfahrtstaates seit 1989 und dem Druck auf die politische Elite, Sozialstandards zu senken, um internationale Firmen und Investoren ins Land zu holen, erklären. Der ungarische Politikwissenschaftler Attila Ágh spricht dabei von drei Enttäuschungswellen: der anfänglichen von 1989, der langsamen Annäherung an den EU-Durchschnitt seit den Beitritten und den einschneidenden Effekten der Wirtschaftskrise 2008 und den Folgejahren.

EU-Mitglieder „zweiter Klasse“?

Der dritte Grund neben dem Erbe des Staatssozialismus und den Transformationserfahrungen ist in der EU und dem geringen Einfluss der östlichen Mitglieder innerhalb der Staatengemeinschaft zu finden. Aufgrund des geringen politischen und ökonomischen Gewichts spielten die östlichen Mitglieder lange Zeit keine starke Rolle, wenn es um die zentralen Entscheidungen in Brüssel oder Straßburg ging. Die älteren Mitglieder, insbesondere die deutsch-französische Achse, gaben den Ton an, dem sich die östlichen Mitglieder fügten.

Dies änderte sich 2015 mit dem Verbünden der östlichen Mitglieder, vor allem der Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei, die gegen EU-weite Verteilungsquoten von Geflüchteten mobil machten. Aus heutiger Sicht erscheint dieses Erstarken der östlichen Mitglieder ein Ausreißer gewesen zu sein, da mit dem gesunkenen öffentlichen Interesse an diesem Thema auch die mediale Wahrnehmung der östlichen Länder wieder abnahm. Aufgrund des geringen Einflusses auf der EU-Ebene besteht in weiten Teilen der Bevölkerung die Wahrnehmung, dass die östlichen Länder eher Mitglieder „zweiter Klasse“ sind. Dies zeigt sich beispielsweise an alltäglichen Dingen, wie dem Verkauf von qualitativ schlechteren Lebensmittel in den östlichen Mitgliedsländern. Hinzukommt, dass dies in manchen Ländern von der politischen Elite politisiert wird, vor allem dort, wo die EU vermehrt Sanktionen androht, wie Ungarn, Polen oder Rumänien. Viktor Orbán startete in den letzten Jahren vermehrt Kampagnen gegen die „Technokraten in Brüssel“ und ließ verlauten, dass das ungarische Volk sich nicht von der Herrschaft Moskaus losgelöst hätte, nur um sich nun dem Brüsseler Regime zu beugen.

Die Gründe für die vergleichsweise niedrige Wahlbeteiligung in den östlichen Mitgliedsländern ist demzufolge sehr vielschichtig und reicht von historisch-strukturellen Gründen, über die Art der Einführung des Kapitalismus bis zu populistischen Parteien, die mit einer anti-EU Rhetorik in den Wahlkampf zogen.

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