Zentral- und Osteuropa: Progressive Stadtpolitik gegen den autoritären Trend?
Seit einigen Jahren lässt sich in vielen Ländern Ostmittel- und Südosteuropas der Trend beobachten, dass sich bei Kommunalwahlen zunehmend Politiker:innen aus dem liberalen, beziehungsweise grünen Lager gegen oftmals konservative oder nationalistische Kandidat:innen durchsetzen. Das jüngste Beispiel dafür ist Tomislav Tomašević, ein grüner Aktivist, der am vergangenen Sonntag in der Stichwahl der Bürgermeisterwahl der kroatischen Hauptstadt Zagreb als Sieger hervor ging.
Vom Aktivisten zum Politiker
Tomašević war Spitzenkandidat der links-grünen Plattform Možemo! (Wir können!) und verwies Miroslav Škoro von der rechten Domovinski pokret (Heimatbewegung) deutlich auf den zweiten Platz. Am Tag nach der Wahl kursierten in Zeitungen und auf den sozialen Netzwerken Bilder von Tomašević aus dem Jahr 2010 als er als Aktivist auf einer Bühne vor tausenden Menschen gegen die Stadtpolitik vom Langzeitbürgermeister Zagreb, Milan Bandić (SDP), protestierte. Bandić verstarb im Februar 2021 an einem Herzinfarkt und regierte mit kurzer Unterbrechung seit 2000 als Bürgermeister.
Tomašević stammt aus der „Recht auf Stadt“-Bewegung (Right to the City) und steht für eine Stadtpolitik, die sich gegen eine neo-liberale Gestaltung des urbanen Raums, vor allem in puncto Gentrifizierung oder die Privatisierung des Gemeinguts, einsetzt. Der Sieg von Tomašević bedeutet den vorläufigen Höhepunkt der Bewegung, die auch in anderen Städten Kroatiens aktiv ist und immer wieder gegen große Bauvorhaben mobil macht.
Tomašević kommt allerdings nicht als völliger Quereinsteiger in das Amt des Bürgermeisters. Er trat 2017 schon für die Plattform Zagreb je Naš (Zagreb ist unser) bei der Kommunalwahl in Zagreb an und übernahm eines der vier gewonnenen Mandate. Im Stadtrat machte er sich dann einen Namen als lautstarker Kritiker von Amtsinhaber Bandić. Nunmehr hat Tomašević die Chance seine Vision eines progressiveren und demokratischeren Zagrebs umzusetzen.
Ein regionaler Trend der progressiven Stadtpolitik?
Tomašević ist aber nur das jüngste Beispiel für den Siegeszug liberaler, beziehungsweise grüner Politiker:innen auf kommunaler Ebene. Der seit 2018 amtierende Stadtpräsident Warschaus, Rafał Trzaskowski, stammt zwar von der etablierten bürgerlichen Bürgerplattform (PO), setzt sich aber immer wieder für die in Polen von der PiS-Regierung oder anderen konservativen Akteur:innen besonders stark angegriffenen LGTBIQ+-Bewegung ein. Er erwarb sich über die Hauptstadt hinaus Anerkennung für seine Arbeit, so dass er im Juli 2020 nur knapp bei der polnischen Präsidentschaftswahl an Amtsinhaber Duda scheiterte. Der parteiunabhängige Architekt und Aktivist Matúš Vallo setzte sich 2018 in der Wahl zum Bürgermeister Bratislavas durch. Im gleichen Jahr wurde mit Zdeněk Hřib zudem ein Politiker der tschechischen Piratenpartei Bürgermeister von Prag. Mit dem grünen Gergely Karácsony zog nach der Wahl 2019 nicht nur ein neuer Oberbürgermeister ins Rathaus der ungarischen Hauptstadt Budapest ein, sondern auch eine neue Art der Stadtpolitik, die vermehrt auf den Dialog mit der Bevölkerung, Mitbestimmung und Inklusion setzt. Zudem kündigte Karácsony unlängst seine Kandidatur bei der 2022 anstehenden nationalen Parlamentswahl an.
Einerseits eint diese Politiker eine progressive, demokratischere Stadtpolitik und starke Anti-Korruptionshaltungen, anderseits vertreten sie auch eine neue Generation von Politiker:innen, die alle unter 50 Jahre alt sind: Tomašević (Jahrgang 1982), Hřib (1981) Vallo (1977), Karácsony (1975), Trzaskowski (1972). Viele nutzten zudem die neuen Freiheiten, die sich für diese Generation nach 1989 boten und studierten im Ausland, wie Trzaskowski (Oxford), Tomašević (Cambridge) oder Vallo (Columbia University).
Ein Gegenpol zu autoritären Entwicklungen?
Die angesprochenen, amtierenden Bürgermeister der Visegrád-4 Hauptstädte, Warschau, Prag, Bratislava und Budapest, haben im Dezember 2019 auch öffentlichkeitswirksam einen gemeinsamen „Pakt der freien Städte“ unterzeichnet. Die symbolträchtige Unterzeichnung erfolgte an der Central European University (CEU) in Budapest, die zuvor von Premierminister Orbán unter massiven Druck gesetzt wurde und inzwischen größtenteils nach Wien übersiedelt ist.
Der Pakt richtet sich dezidiert gegen die auf nationaler Ebene deutlich zunehmende autoritäre Entwicklung, gegen Populismus, Nationalismus und Korruption. In vielen Staaten Zentral- und Osteuropas ließen sich in den letzten Jahren massive Rückschritte in der Rechtsstaatlichkeit, der Pressefreit oder der Korruptionsbekämpfung beobachten. Tschechiens Premier Babiš sieht sich seit langem Korruptionsvorwürfen ausgesetzt, Sloweniens Ministerpräsident Janša fiel durch derbe Beleidigungen von Journalist:innen negativ auf und im serbischen Parlament ist seit der Parlamentswahl 2020, auch aufgrund des Teilboykotts der Opposition, keine Oppositionspartei mehr vertreten. Die größten Sorgen bereitet der EU wohl Polen und Ungarn, gegen die auf EU-Ebene ein Artikel 7-Verfahren aufgrund von Verstößen gegen die Grundwerte der EU läuft und die zuletzt auch gegen die neu installierte Rechtsstaatlichkeitsklausel mobil gemacht hatten. Viele Politikwissenschaftler:innen bewerten das EU-Mitglied Ungarn beispielsweise auch nicht mehr als Demokratie, sondern sehen es als gleichwertigen Hybrid aus Demokratie und Autokratie an.
Dieser Entwicklung wollen Politiker:innen wie Tomašević oder Karácsony eine demokratischere und transparentere Stadtpolitik entgegensetzen, die sich nicht nur um die Anliegen der Bürger:innen kümmert, sondern diese auch aktiv mit in Entscheidungen einbindet und die Zivilgesellschaft fördert. In Ungarn, das auf nationaler Ebene vermehrt für eine Unterdrückung von zivilgesellschaftlichen Organisationen kritisiert wird, stellt beispielsweise die Stadtpolitik von Karácsony einen klaren Gegenentwurf zum politischen Programm Premierminister Orbáns dar. Karácsony setzte seit der Wahl 2019 verschiedene Maßnahmen zur stärkeren Einbindung der Bevölkerung um, wie einen Klimarat, bei dem Bürger:innen darüber diskutierten wie sie die Stadt „klimafit“ gestalten können, oder einen Bürger:innenhaushalt, bei dem die Bevölkerung Stadtentwicklungsprojekte einreichen konnte und dann selbst darüber abstimmt, welche umgesetzt werden.
Gründe für den Erfolg
Der Erfolg dieser neuen Generation an Politiker:innen ist vielschichtig und natürlich bestehen auch Unterschiede zwischen den besprochenen Wahlsiegern. Drei gemeinsame Gründe lassen sich aber nennen, welche ihre Erfolge erklären.
Sie verkörpern eine demokratischere, progressive Stadtpolitik, die im Kontrast zur zunehmend autoritären nationalen Politik steht. Viele dieser Politiker:innen kommen selbst aus der Zivilgesellschaft. Andere, wie Karácsony, der eine recht klassische politische Karriere absolvierte, holen Quereinsteiger:innen aus dem aktivistischen Bereich in die Politik, wie beispielsweise die urbane Aktivistin Marietta Le, und schlagen somit auch personell die Brücke zur Zivilgesellschaft.
Der zweite Grund ist, dass die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren in Zentral- und Osteuropa immer wieder stark gegen autoritäre Entwicklungen, Korruption und schlechtes Regieren protestiert hat. Diese Proteste fanden meist in den großen Städten statt. Lange scheuten aber Personen den Weg aus Protestbewegungen in die klassische Politik, was sich nun zunehmend ändert.
Ein weiterer Grund erwächst aus den großen Unterschieden zwischen Stadt und Land, die sich in der Region Zentral- und Osteuropa (und darüber hinaus) nicht nur in politischen Präferenzen oder den Ausgängen von Kommunalwahlen zeigen. In der Transformation der Region seit 1989 vom Staatssozialismus in Richtung liberale Demokratie zählen Städte und ihre Bewohner:innen zu den absoluten Gewinner:innen der Transformation. Der Wohlstand der seit 1989 erzielt worden ist, ist vor allem in Städten wie Budapest, Prag oder Zagreb spürbar, die zudem rund ein Viertel bis ein Drittel des nationalen Brutto-Inlandsprodukt erwirtschaften. Während viele ländlichen Betriebe geschlossen haben und die Landflucht einsetze, entstanden in den Städten neue Jobs, wie beispielsweise in der IT-Branche in Budapest oder Bukarest. Somit wurden die Städte auch zu Magneten für die junge, gut ausgebildete Bevölkerung – sofern diese das Land nicht gänzlich in Richtung Nordamerika oder Westeuropa verlassen will. Diese unterschiedliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten und die sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten machen sich nun auch immer stärker in den Wahlergebnissen bemerkbar.
Ob sich der politische Trend aus den großen Städten auch auf der nationalen Ebene durchsetzen wird, wird sich unter anderem bei der Parlamentswahl 2022 in Ungarn zeigen. Dafür muss es Karácsony aber auch gelingen, die ländliche, abgehängte Mehrheitsbevölkerung zu erreichen.