Ungarns Forschung unter Druck: Ein Umbau mit Folgen

Ungarns Forschung unter Druck: Ein Umbau mit Folgen

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Das Klima an den Universitäten und Forschungseinrichtungen Ungarns wird rauer. Während die Orbán-Regierung Schritt für Schritt an der Renationalisierung des Hochschulsektors arbeitet, setzt sich die gesellschaftliche Polarisierung zwischen „Liberalen“ und „Illiberalen“ bei Studierenden und Lehrenden fort.

Spätestens mit dem Umzug der Central European University (CEU) nach Wien hat der Konflikt der US-amerikanischen Universität mit der ungarischen Regierung viel Aufmerksamkeit in Österreich erfahren. Auch das Aus für die Gender Studies im August 2018 und die Proteste rund um die Umstrukturierung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (Magyar Tudományos Akadémia – MTA) wurden international verfolgt. Abseits tagesaktueller Schlagzeilen geraten die langjährigen prozessartigen Veränderungen in der Forschungs- und Hochschullandschaft aber in den Hintergrund. Ende Jänner 2020 legten 30 ungarische Intellektuelle und Kulturschaffende eine verheerende Bilanz von beinahe zehn Jahren Regierung unter Viktor Orbán vor. Auf über 80 Seiten stellen sie ihre Sicht auf radikale Transformationen in den Medien, der Kulturszene, der Erinnerungspolitik, wie auch in Bereichen der Forschung und Bildung vor. Unter dem Titel „Ungarn kehrt Europa den Rücken zu“ diagnostizieren die AutorInnen den „Abbau von Kultur, Bildung, Wissenschaft und Medien“. Der Bericht wurde im Feszek Artists Club in Budapest vorgestellt und von Oktatói hálózat, einem Netzwerk von Lehrenden, veröffentlicht.[i] Mit Unterstützung ungarischer Oppositioneller, darunter Katalin Cseh (Momentum Bewegung) und Sándor Rónai  (Demokratische Koalition – DK), schaffte es der Bericht auch ins Europäische Parlament. Die Kritik ist umfassend: Der ungarische Hochschulsektor werde zulasten von Qualität und Unabhängigkeit zur nationalen Baustelle deklariert.

Verfolgen wir die darin angesprochenen Umbaumaßnahmen, so lassen sich drei zentrale Herangehensweisen identifizieren, die seitens der Regierung genutzt werden, um mehr Kontrolle über den Hochschulbereich zu erhalten: Einerseits wird durch neue Gesetze und Dekrete die Struktur zentraler Institutionen radikal verändert, um einen direkten Regierungseinfluss zu ermöglichen. Andererseits werden nicht-konforme ForscherInnen, Forschungsbereiche und Institutionen durch Diffamierungen und Feindbild-Rhetorik an den öffentlichen Pranger gestellt. Ergänzend dazu wird durch die schrittweise Privatisierung von Universitäten der Einfluss durch regierungsnahe Unternehmen, Konkurrenzdruck und Parallelstrukturen in der Hochschullandschaft verstärkt.

Renationalisierung von Forschung und Lehre

Mit einem neuen Gesetz zum Umbau der MTA nimmt die Regierung Orbán im Juli 2019 ein Herzstück der ungarischen Forschungslandschaft ins Visier. Zahlreiche Institute wurden aus der Akademie herausgelöst und einem neu etablierten Forschungsnetz unterstellt (Eötvös Loránd Kutatási Hálózat – ELKH). Über Förderungen und Besetzungen entscheidet nun ein Gremium bestehend aus sechs VertreterInnen der Akademie und sechs VertreterInnen des Ministeriums. Der 76-jährige Altphilologe Miklós Maróth wurde vom Premierminister persönlich ernannt. Medienberichten zufolge fiel dieser bereits mehrfach durch fremdenfeindliche Aussagen auf.[ii] Die Kritik an Postenbesetzungen ist nicht neu. „Es ist in dieser Klientel eine neue Generation herangewachsen – und für die braucht man Posten. Deshalb muss man die entfernen, die vorher noch als loyal galten. (…) Es geht ihm [Orbán, Anm.] darum, diesen Klientel-Kreis, den er bewegt, in der Hand zu haben“, so die ungarische Soziologin Éva Kovács in einem früheren Interview.[iii] Die nächste Stufe des Konflikts wird durch die Gründung eines Nationalen Wissenschaftsrates (Nemzeti Tudománypolitikai Tanács – NTT) erreicht.[iv] Unter dem Vorsitz des Ministers für Innovation und Technologie László Palkovics berät das Gremium künftig darüber, welche Forschungen gefördert werden sollten. Der Akademie, Arbeitgeberin von etwa 5.000 MitarbeiterInnen, wird lediglich ein/e VertreterIn in diesem Rat zugestanden. Auch sämtliche Gebäude und Vermögenswerte der Akademie sollen dem Wissenschaftsrat übergeben werden. Bereits im Jahr zuvor waren 70 Prozent des Budgets in das neu gegründete Ministerium gewandert.[v]

Gegen die Umbaumaßnahmen formiert sich öffentlicher Widerstand in Ungarn. Im Jänner des Vorjahres bildet sich ein Forum aus Akademie-MitarbeiterInnen. Akademiepräsident László Lovasz spricht in einem Statement von Einschnitten in die Zukunft der Forschungsgemeinschaft, die im Widerspruch zu europäischen Prinzipien stehen.[vi] Aber auch international wird Protest laut. Die Europäische Föderation der Akademien der Wissenschaften (ALLEA) zeigt sich solidarisch mit der MTA und fürchtet um die Forschungsfreiheit.[vii] Unterstützung kommt auch aus Deutschland, wo führende Persönlichkeiten von zehn Forschungsinstitutionen, darunter der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen offenen Brief an Premierminister Orbán unterzeichneten.[viii] ForscherInnen in Ungarn hätten in den letzten Jahren sehr erfolgreich hochkarätige Forschungsstipendien der EU (ERC Stipendien) für sich verbuchen können, so das Statement. Nun drohe durch die geplante Umstrukturierung ein „erheblicher Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit“ und damit ein Qualitätsverlust.

Unter dem Hashtag #IstandwithCEU demonstrierten im Frühjahr 2018 Zigtausende in Budapest. Der Konflikt um die Central European University ist jedoch nur ein Zwischenspiel in der weit umfassenderen Renationalisierung der ungarischen Hochschullandschaft.
Foto: D. Neubacher

Forschung in und aus einer Hand

2012 betrat mit der neu geschaffenen Nationalen Universität für Öffentlichen Dienst (NKE) ein weiterer Spieler im Wettkampf um Fördermittel das Feld. Sie vereint die vormals getrennten Programme des Öffentlichen Dienstes (Verwaltung, Polizei und Militär), baut ihr Portfolio aber zunehmend aus. KritikerInnen bezeichnen die NKE bereits als Kaderschmiede einer ideologisch loyalen Nachwuchs-Intelligenz. Ab 2023 bleiben etwa leitende Verwaltungsposten den NKE-AbsolventInnen vorbehalten.[ix] Bereits jetzt soll die ungarische Regierung im Durchschnitt drei bis viermal mehr öffentliche Fördermittel für eine NKE-Studierenden ausgeben als für einen Studierenden einer anderen Universität.[x]

Die personelle Sogwirkung der Universität betrifft auch andere Institutionen. So wird das Naturhistorische Museum nach Debrecen verlagert werden, um das Gebäude, bekannt als Ludovica Akademie, für die NKE freizumachen. Proteste dagegen bleiben bis dato erfolglos. Die Regierung deklariert die Reformmaßnahmen im akademischen Bereich als Beitrag zur Reduzierung der Verschuldung Ungarns.[xi] Es liege auf der Hand, dass in Richtungen geforscht werden muss, die aus Sicht der Wettbewerbsfähigkeit des Landes wichtig sind, so Ungarns Außenminister Péter Szijjártó zu Journalisten.[xii] Wirtschaftliche Argumente werden allerdings zunehmend mit der Konstruktion eines „illiberalen“ Wertesystems  verknüpft. So erfolgte zuerst die öffentliche Abwertung der Geschlechterforschung, bevor das Studienprogramm Gender Studies ganz ausgesetzt wurde. Im Fall der Akademie startete der Konflikt mit der Berichterstattung des Figyelő. Das Wochenmagazin, das sich im Besitz von Orbáns Ex-Beraterin Mária Schmidt befindet, hatte mehrmals beklagt, dass sich das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum der MTA lieber mit der erhofften Steigerung der Geburtenrate auseinandersetzen solle, als sich mit Fragen der Inklusion oder sexuellen Minderheiten zu beschäftigen. [xiii] 2018 erschien ein Quiz, in dem LeserInnen erraten mussten, ob eine Forschungsarbeit an der „von Soros geförderten Universität“ (CEU) oder an der Akademie durchgeführt wurde.[xiv] Beim Forschungsthema Roma und LGBTQ stand als Antwortmöglichkeit das Feld „Unglaublich, dass sie sich damit auseinandersetzen“ zur Auswahl.

Druck von außen, Polarisierung im Inneren

Mit dem 1. Juli 2019 traten für die traditionsreiche Corvinus Universität (Budapesti Corvinus Egyetem – BCE) massiven Veränderungen in Kraft. In dem Wunsch, sie in eine Eliteuniversität umzugestalten, wird die 1920 gegründete Hochschule in eine Stiftung umgewandelt (Maecenas Universitatis Corvini Foundation).[xv] Dieser erste Schritt zur Privatisierung wurde von den Studierenden sehr kritisch kommentiert. Die Absolventin Clare Humphrey bezeichnete die Umstrukturierung als „das Ende einer Ära“. „Ab dem nächsten Jahr wird Corvinus von einer öffentlichen Universität, die der ungarischen Bevölkerung dient, in eine private Einrichtung umgewandelt, die einer Bank und einer Ölgesellschaft gehört und von einem engen Freund des Premierministers geleitet wird“, so Humphrey in dem Video, das daraufhin auf Sozialen Medien verbreitet wurde.[xvi] Tatsächlich hält die Stiftung Anteile der Öl- und Gasfirma MOL und des Pharmaunternehmens Gedeon Richter, um die Universität zu finanzieren.[xvii] Die Corvinus Universität gilt dabei als Pilotprojekt für andere Universitäten.[xviii] ForscherInnen vermuten, dass insbesondere attraktive EU-Gelder für Forschungsprojekte der Grund sein könnten, warum die Regierung Orbán ihren Einfluss im Hochschulsektor vergrößern will. Die vorgeworfene Nationalisierung der Forschungslandschaft wird sowohl von Orbán als auch von dem Innovationsminister Palkovics dementiert.[xix] Nichtsdestotrotz gab die Regierung bereits im 2011 verabschiedeten Hochschulgesetz die Stoßrichtung vor, in dem von dem Ziel die Rede ist, „die Nation intellektuell und spirituell wiederzubeleben“.[xx]

Folgenreiches Schweigen

Zu befürchten bleibt, dass vor allem die Polarisierung in der Wissenschaftsgemeinschaft ihre Spuren hinterlassen wird. „Wir sehen die verschiedenen Formen der Selbstzensur, die kleinen Kompromisse. Dort, wo es wichtig wäre, klare Kante zu zeigen, sich öffentlich gegen Entscheidungen zu stellen – da bleibt man ‚drin‘ in diesen schlechten Deals, Kollegen, Menschen, die denken, solange sie drin sind, könnten sie besser Einfluss nehmen. Die Folgen dessen – was wir ‚Kulturkampf‘ nennen – und das wissen wir aus der Kádár-Zeit – werden so gravierend sein, dass es sehr schwer sein wird, die wieder los zu werden“, so die Soziologin Éva Kovács. [i]

Zu den wenigen öffentlichen Äußerungen gesellen sich besorgniserregende informelle Erfahrungsberichte von Betroffenen. Angst vor beruflichen Konsequenzen verhindere jegliche politische Meinungsäußerung am Arbeitsplatz. Diese „Selbstzensur“ setze sich in den Hörsälen fort. Listen mit den Namen von „zu liberalen“ Lehrenden sollen von Studierenden als Druckmittel bei der Notenvergabe eingesetzt werden. Dass es besonders für ForscherInnen an der NKE riskant ist, Reizthemen zu erforschen oder regierungskritische Meinungen zu äußern, zeigen jüngste Fälle von Kündigungen. Medienberichten zufolge sei ein Professor der Fakultät für Recht entlassen worden, nachdem er eine Konferenz zu Homophobie organisierte.[ii]  CEU-Rektor Michael Ignatieff fühlt sich von den EU-Institutionen im Stich gelassen. Diese würden nichts unternehmen, während Orbán seine demokratische Legitimität nutze, um der Demokratie ihre Substanz zu nehmen.[iii] Schon jetzt leidet Ungarn – wie auch andere post-sozialistische Staaten – an einem massiven Brain Drain.[iv] Die dramatischen Folgen dieser Entwicklung zeigen sich bereits jetzt in den Bildungschancen von Studierenden wie auch in den Arbeitsbedingungen der Forschenden. Nicht zuletzt gefährdet der Umbau jedoch die Wissenschaftsfreiheit im EU-Mitgliedsland Ungarn. Das Schweigen von WissenschaftlerInnen zu politisch kontroversen Themen sowie der Rückzug aus dem politischen Diskurs könnten die Situation zunehmend verschlechtern und auch international die Isolation Ungarns verstärken.

Der Artikel ist Teil einer Kooperation des Eastblog mit dem IDM – Institut für den Donauraum und Mitteleuropa, http://www.idm.at/


[i] https://science.orf.at/v2/stories/2987723/ [Accessed: 26.02.2020].

[ii] https://hvg.hu/itthon/20191029_A_homofob_gyuloletrol_szervezett_konferenciat_kirugtak_az_egyetemrol [Accessed: 26.02.2020].

[iii] https://www.cambridgeindependent.co.uk/news/michael-ignatieff-condemns-eu-inaction-against-hungary-a-simulacra-of-democracy-9100327/ [Accessed: 26.02.2020].

[iv] Zum Thema Illiberalismus und Demografie siehe etwa https://www.nzz.ch/international/migration-in-ostmitteleuropa-der-exodus-erinnert-an-die-ddr-ld.1533825?fbclid=IwAR1kBGs74TbiG7-9dp2IM6Pn5evJ3CYZk8Fq_eqXeo4Sqrfa8Z-AQSlBaGs und https://nzzas.nzz.ch/international/migration-entvoelkerung-befeuert-populismus-und-rechtsrutsch-ld.1540770?reduced=true [Accessed: 26.02.2020].


[i] Englischsprachige Version des Berichts: “Hungary Turns its Back on Europe. Dismantling Culture, Education, Science and the Media in Hungary 2010-2019”, Budapest 2020; http://oktatoihalozat.hu/wp-content/uploads/2020/03/angol.pdf  [Accessed: 26.02.2020].

[ii] https://www.dw.com/de/umstrittener-altphilologe-soll-ungarns-neues-akademie-forschungsnetz-leiten/a-49427198 [Accessed: 26.02.2020].

[iii] https://www.deutschlandfunk.de/das-system-orban-in-ungarn-ist-loyalitaet-die-neue.691.de.html?dram:article_id=436793 [Accessed: 26.02.2020].

[iv] https://nkfih.gov.hu/english/online/palkovics-hungarys-research-development [Accessed: 26.02.2020].

[v] https://visegradinsight.eu/orbans-next-victim-the-hungarian-science-academy/ [Accessed: 26.02.2020].

[vi] https://mta.hu/english/international-press-conference-at-the-academy-109812 [Accessed: 26.02.2020].

[vii] https://www.allea.org/wp-content/uploads/2019/02/ALLEA_HungaryStatement15022019b.pdf [Accessed: 26.02.2020].

[viii] https://mta.hu/english/letter-to-pm-viktor-orban-109871 [Accessed: 26.02.2020].

[ix] https://index.hu/belfold/2017/08/30/kozigazgatas_nemzeti_kozszolgalati_egyetem_allamtudomanyi_mesterkepzes/ [Accessed: 26.02.2020].

[x] Vgl. Hungary Turns its Back on Europe. Dismantling Culture, Education, Science and the Media in Hungary 2010-2019. Budapest 2020; http://oktatoihalozat.hu/wp-content/uploads/2020/01/angol.pdf [Accessed: 26.02.2020], S.39.

[xi] Vgl. https://2010-2014.kormany.hu/download/4/d1/20000/Sz%C3%A9ll%20K%C3%A1lm%C3%A1n%20Terv.pdf, S.22. [Accessed: 26.02.2020].

[xii]  https://www.theguardian.com/world/2019/jun/13/hungary-eyes-science-research-as-latest-target-for-state-control [Accessed: 26.02.2020].

[xiii] https://www.derstandard.at/story/2000048854133/ex-chefberaterin-von-premier-orban-kauft-zeitung-figyeloe [Accessed: 26.02.2020].

[xiv] https://figyelo.hu/hirek/dontse-el-hogy-felveszi-e-a-versenyt-az-mta-a-soros-egyetemmel-19541/

[xv] https://www.uni-corvinus.hu/index.php?id=45253&tx_ttnews%5Btt_news%5D=37764&cHash=6a4ad09ffd4a2275fe53c2b1e71e06ed [Accessed: 26.02.2020].

[xvi] Originalmitschnitt der Rede: https://www.youtube.com/watch?v=scQA0E8f4_Y [Accessed: 26.02.2020].
Rede mit ungarischen Untertiteln auf Facebook: https://www.facebook.com/watch/?v=2271426352977880

[xvii] https://www.richter.hu/en-US/investors/announcements/Pages/extraord190611.aspx [Accessed: 26.02.2020].

[xviii] https://oktatas.atlatszo.hu/2020/02/10/corvinus-modell-ujabb-negy-egyetem-kerulhet-alapitvanyi-fenntartasba/ [Accessed: 26.02.2020].

[xix] https://bbj.hu/politics/in-blow-to-academic-freedom-govt-to-nationalize-research_166262 [Accessed: 26.02.2020].

[xx] https://www.andrassyuni.eu/docfile/de-2064-gesetz-uber-das-ungarische-hochschulwesen-en-stand-16-02-2013.pdf [Accessed: 26.02.2020].

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