COVID-19 und das Ost-West-Gefälle in der EU
Die vierte bzw. fünfte Welle der Pandemie hat die Länder der Europäischen Union hart getroffen und erneut zu einem globalen COVID-19 Hotspot gemacht. Obwohl alle Regierungen versuchen die Lage in den Griff zu bekommen, zeigen sich im Ergebnis doch große Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten – besonders im Verhältnis von den östlichen zu den westlichen Mitgliedern. Die Impfraten sind niedriger und die Pandemie ist tödlicher. Durch das Virus werden verschiedene politische und gesellschaftliche Krisen sichtbarer, welche die östlichen Mitglieder der EU auch weit nach der Pandemie noch beschäftigen werden.
Pandemie verdeutlicht erneut Ost-West-Unterschiede
Während in vielen Teilen der Welt wenig bis kaum Impfstoff verfügbar ist, wird in der Europäischen Union darum gerungen, den vorhandenen Impfstoff zu nutzen, um für die akute Omikron-Welle gerüstet zu sein. Hier weisen jedoch vor allem die östlichen EU-Mitgliedstaaten (in Abbildung 1 orange hervorgehoben) deutlich niedrigere Impfquoten als der EU-Durchschnitt auf. Dies gilt besonders für die Schlusslichter in der EU: die Slowakei (47,0 Prozent), Rumänien (39,6 Prozent) und Bulgarien (26,7 Prozent).
Auch bei der Mortalitätsrate bestehen ähnliche Unterschiede. Mit der Ausnahme von Estland versterben gemessen pro 1 Million Einwohner:innen in den östlichen EU-Mitgliedstaaten deutlich mehr Personen an bzw. mit COVID-19 als in der restlichen EU. Besonders dramatisch ist die Lage in Bulgarien, das EU-weit nicht nur die geringste Impfquote aufweist, es sterben dort auch mehr als doppelt so viele Menschen an COVID-19 als im EU-Durchschnitt.
Geringes Vertrauen in die Politik nur ein Puzzleteil
Die östlichen EU-Mitglieder verdeutlichen durch die dramatische Lage nicht nur die Wichtigkeit einer hohen Impfquote. Es wird zugleich auch deutlich, wie heterogen die EU-Mitglieder sind.
Als gesamtgesellschaftliche Belastungsprobe stellt die Pandemie nicht nur eine Herausforderung für die Gesundheitssysteme dar, sondern auch für die Demokratie und besonders das Vertrauen in Regierungen. Wie Abbildung 3 zeigt ist das Misstrauen gegenüber der nationalen Regierung in vielen östlichen Mitgliedern besonders gering. Hier sind vor allem Bulgarien, Kroatien oder die Slowakei zu nennen, wo etwa nur jede fünfte Person nur Vertrauen in die Regierung hat.
Die Gründe für das niedrige Vertrauen sind vielfältig, gehen aber unter anderem auch auf das meist höhere Korruptionsniveau zurück, wovon auch das Gesundheitswesen immer wieder betroffen ist.
Das geringe Vertrauen in die Politik wirkt sich auch auf das Krisenmanagement der nationalen Regierungen aus. Aufgrund des geringeren Vertrauens scheuen viele Regierungen in der östlichen EU vor härteren Maßnahmen zurück, vor allem die populistischen, um das ohnehin geringe Vertrauen der Bevölkerung nicht auch zu verspielen.
Mit seiner hohen Impfquote bei geringem Vertrauen in die Regierung demonstriert beispielsweise Spanien, dass das geringe Vertrauen in nationale Regierungen nur eines von mehreren Puzzleteilen ist, um die niedrigeren Impfquoten in den östlichen EU-Mitgliedern zu erklären.
Desinformation und eingeschränkte Pressefreiheit
Ähnlich wie die nationalen Regierungen genießen auch die Medien in vielen östlichen EU-Mitgliedsstaaten kein besonders großes Vertrauen der Bevölkerung, wie die Eurobarometer-Daten zeigen. Corona-Verschwörungsmythen und Desinformationen zur Impfung werden vielerorts verbreitet, was Demokratien weltweit vor Herausforderungen stellt.
Die problematische Verbreitung solcher Falschmeldungen und Unwahrheiten hängt in vielen zentral- und osteuropäischen Ländern nicht nur mit dem geringen Vertrauen in Medien zusammen, sondern auch mit der Einschränkung der Pressefreiheit und den Bedingungen für Journalist:innen.
Wie der aktuelle Bericht von Reporter ohne Grenzen zur weltweiten Lage der Pressefreiheit zeigt, wird diese in vielen östlichen EU-Mitgliedsstaaten vermehrt angegriffen. Länder wie Polen (Platz 46), Kroatien (Platz 56), Ungarn (Platz 92) oder Bulgarien (Platz 112) landen bestenfalls im vorderen Mittelfeld der 180 untersuchten Länder. In Ungarn veröffentlichten Journalist:innen im März 2021 einen offenen Brief, um anzuklagen, dass das Gesundheitspersonal in Spitälern sich nicht frei in den Medien äußern darf und Medienvertreter:innen nicht aus Spitälern berichten dürfen.
Soziale Auswirkungen der neoliberalen Transformation
Die dramatischere Lage der Pandemie in der östlichen EU ist aber nicht nur auf eine Krise der Demokratie zurückzuführen, sondern auch auf die Auswirkungen der neoliberalen Transformation seit 1989. Im Sinne eines neoliberalen ‚schlanken Staates‘ wurden in den 1990ern auf dem Weg in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft die Bildungs-, Sozial- und Arbeitspolitik sowie das Gesundheitswesen reformiert, privatisiert und vielerorts auf ein Minimum zusammengespart. Auch wenn die Ausgaben für das Gesundheitswesen zuletzt in den östlichen Mitgliedsstaaten wieder gestiegen sind, konnten viele Missstände dadurch nicht behoben werden.
So stellte Human Rights Watch unlängst fest, dass das Gesundheitspersonal in Ungarn „unterfinanziert und unterbesetzt“ ist und Patient:innen dementsprechend nicht adäquat behandelt werden. Ein Symbol für diese Unterfinanzierung ist ein Bild, dass im April 2020 in einer Budapester Klinik entstanden ist. Darauf ist nicht nur zu sehen, dass Premierminister Orbán mit einer qualitativ hochwertigeren Maske als das Personal ausgestattet ist, sondern auch, dass das Spital selbst in einem maroden Zustand ist.
Zudem haben die bestehenden Lohnunterschiede zwischen Ost und West und die Arbeitsfreizügigkeit in der Europäischen Union dazu geführt, dass es eine starke Abwanderung von den östlichen EU-Mitgliedern seit den 1990ern gegeben hat, vor allem nach Westeuropa und Nordamerika. Dies betrifft unter anderem auch den Gesundheitssektor, dem viele Ärzt:innen und Pfleger:innen fehlen.
Das deutlich niedrigere Wohlstandsniveau, vor allem in vielen ländlichen Regionen in der östlichen EU, wirkt sich auch auf die medizinische Versorgung aus, wie Eurostat-Daten verdeutlichen. Die Dichte an Ärzt:innen pro 100.000 Einwohner:innen fällt in ländlichen Regionen in der gesamten EU, aber vor allem in den östlichen EU-Mitgliedern eklatant niedrig aus.
COVID-19 als Vergrößerungsglas für Probleme in der östlichen EU
COVID-19 macht somit Entwicklungen in der EU nur sichtbarer, die schon vor der Pandemie bestanden. In den östlichen Mitgliedern kommen verschiedene Faktoren zusammen, wie die Krise der Demokratie oder neoliberale Erosion des Wohlfahrtstaates, die maßgeblich dazu beitragen, dass die Impfraten niedriger und die Mortalitätsraten höher ausfallen.
Natürlich sind nicht alle Faktoren in den östlichen Mitgliedern gleichermaßen präsent. Die vielfältigen Krisen und sozialen Unterschiede werden die östlichen EU-Mitglieder auch dann vor große Herausforderungen stellen, wenn die Pandemie irgendwann weniger akut ist. Hier benötigt es auch verstärkt gemeinsame Anstrengungen aller EU-Staaten und Institutionen, um die Unterschiede innerhalb der EU abzubauen.