Solidarität auf dem Prüfstand? Ein Jahr ukrainische Geflüchtete in Polen

Solidarität auf dem Prüfstand? Ein Jahr ukrainische Geflüchtete in Polen

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Unterstützer der ersten Stunde

Polen gilt als einer der größten Verbündeten der Ukraine im Kampf gegen Russland. Auf politischer Ebene stellte man sich gleich nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 klar gegen den russischen Aggressor auf die Seite der Ukraine. Auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene wurde von den ersten Stunden an aktive Solidarität bekundet und Hilfeleistung für die aus der Ukraine ankommenden Vertriebenen organisiert. Eine solche Entwicklung stand klar im Gegensatz zu der bisherigen Anti-Migrations- und Flüchtlingspolitik Polens innerhalb der EU, die breite Unterstützung innerhalb der Bevölkerung fand. Die Situation ukrainischer Geflüchteter jedoch rief in Polen andere Reaktionen hervor. Der Krieg im Nachbarland prägt die polnische Gesellschaft immens. Neben den ökonomischen Auswirkungen fühlen sich viele Pol*innen stark an die eigene Geschichte und alte Traumata erinnert — begleitet von der Angst, das nächste Angriffsziel Putins zu werden.

Zudem waren nur wenige europäische Länder dermaßen stark an der Aufnahme und am Transit der aus der Ukraine flüchtenden Menschen beteiligt. Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes überquerten zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 12. Februar 2023 insgesamt knapp 10 Millionen Menschen aus der Ukraine die polnisch-ukrainische Grenze, überwiegend Frauen und Kinder. Die stetige militärische und humanitäre Hilfe und beispiellose Verbundenheit Polens mit der Ukraine ist der Grund, weshalb der US-amerikanische Präsident Joe Biden von Polen aus seine Ansprache zum Jahrestag des Angriffs gehalten hat.

Die Aufnahme von Geflüchteten in Zahlen

Die höchste Zahl von Personen mit Anspruch auf vorübergehenden Schutz aus der Ukraine im Verhältnis zur Bevölkerung innerhalb der Europäischen Union wurde in Tschechien (41,1 – Zahl im Verhältnis zur Bevölkerung pro 1000 Einwohner*innen) vor Estland (28,8), Polen (25,5), Litauen (23,3) und Bulgarien (21,6) festgestellt. In Polen leben die Ukrainer*innen vor allem in den Metropolen und stellen heute beispielsweise 15 Prozent der Einwohner*innen Warschaus dar.

Polen hat im Jahr 2022 insgesamt 961 340 Menschen aus der Ukraine aufgenommen, Österreich im Vergleich dazu nur 87 570, weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung. In der Republik Moldau, einem der ärmsten und mit 2,6 Millionen Einwohner*innen kleinsten Länder Europas, und zudem durch einen „eingefrorenen Konflikt“ mit Russland in Transnistrien vorbelastet, waren im Jänner 2023 über 108 000 Menschen aus der Ukraine registriert, vier Prozent der Gesamtbevölkerung.


Gesamthilfe für die Ukraine als % des BIP
https://app.23degrees.io/view/x67vE7NsM3NeQu7z-atlas-slideshow_v4-atlantic/fY83zKIZpbLi3ll5-choro-ukraine-aid-tracker-final-data

Solidarität der polnischen Zivilgesellschaft

Die wirkmächtigen Bilder Polens als Aufnahmeland für Ukrainer*innen sind vor allem auf die Haltung der Zivilgesellschaft zurückzuführen. An der polnisch-ukrainischen Grenzen kamen Freiwillige zusammen, teilten Sachspenden aus, vermittelten Unterkünfte und Mitfahrgelegenheiten. In Tourismusstädten und -dörfern stellten Besitzer*innen unvermietete Unterkünfte für Ukrainer*innen unentgeltlich zur Verfügung. Sieben Prozent der Pol*innen nahmen ihnen unbekannte Geflüchtete bei sich zuhause auf. Eine Ausnahmeleistung lieferten zwei junge Frauen am Warschauer Bahnhof: In Ermangelung professioneller, zentral organisierter Hilfeleistung vor Ort gründeten sie mithilfe sozialer Medien und ehrenamtlichen Engagements die „Grupa Centrum“, eine eigene Organisation mit mehreren Subeinheiten (Transport, Unterkünfte etc.). Innerhalb dieser wurden bald Institutionen und Gruppen wie die Feuerwehr oder Pfadfinder aktiv oder Apps zur Wohnungsfindung mit Filterfunktion zur Verfügung gestellt.

“Eine derart allumfassende Unterstützung hatte die polnische Gesellschaft seit der Entstehung der Solidarność-Bewegung vor rund 40 Jahren nicht mehr erlebt,” stellt die Soziologin Malgorzata Fuszara von der Universität Warschau fest.

Was steht hinter der unerwarteten Welle der Hilfsbereitschaft?

Seit 2015 verfolgt Polen unter der PiS-Regierung eine harte Linie gegen Geflüchtete aus dem außereuropäischen Raum und war insofern kein Zielland für Zwangsmigrant*innen. Die enorme Unterstützung Polens für die aus der Ukraine flüchtenden Menschen kam deshalb für viele sowohl im Westen als auch in Polen selbst überraschend. Die Gründe für diese Entwicklung sind divers.

Die ukrainische Diaspora in Polen, die seit dem Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine 2014 rapide wuchs und vor dem 24. Februar 2022 eine Million Menschen zählte, war ein wichtiger Faktor, weil die ersten Geflüchteten zu ihren Verwandten und Freund*innen flohen. Da in Folge des Krieges Familien getrennt wurden, wollen viele Flüchtlinge in der Nachbarschaft der Ukraine bleiben – um Verwandte zu besuchen, aber auch in der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. Ein weiterer Faktor, der beide Länder eint, ist der gemeinsame Gegner. Aufgrund von historischen Erfahrungen identifizieren sich Pol*innen mit der Notlage der Ukraine, viele fürchten, dass ihr Land zum nächsten Ziel russischer Aggression werden könnte. Die ukrainischen Geflüchteten passen auch in die verklärte Vorstellung der „richtigen“ Hilfesuchenden: Sie sind überwiegend Frauen und Kinder. Nicht zuletzt verbindet beide Gesellschaften, trotz einer eigentlich schwierigen Geschichte der polnisch-ukrainischen Beziehungen, eine kulturelle und sprachliche Nähe sowie das postsozialistische Erbe, wodurch eine Aufnahme als auch die Integration und Kommunikation erleichtert wird. Dabei variierte oft auf beiden Seiten der Grenze die Behandlung der aus der Ukraine flüchtenden Menschen, die keine ukrainischen Bürger*innen waren (z.B. afghanische Geflüchtete, internationale Student*innen, Roma und Sinti): Hilfe erhielten diese erst nach den Ukrainer*innen, auch private Unterkünfte wurden ihnen seltener angeboten. Vor allem ist aber die Rolle des politischen Willens als Faktor nicht zu unterschätzen: Die polnische Regierung und regierungsnahen Medien befürworteten die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine.

Nicht alle sind willkommen

Diese Willkommenskultur steht im starken Kontrast zur Behandlung der Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze. Die von Lukaschenko betrogenen Menschen aus dem Irak, Afghanistan und afrikanischen Staaten werden dort seit Herbst 2021 zwischen belarussischen und polnischen Grenzschutzkräften hin- und hergeschoben. Die polnische Regierung positionierte sich von Anfang an gegen deren Aufnahme und hat dazu auch öffentliche Medien eingesetzt. Sogar wenn die Geflüchteten es auf das Gebiet Polens schaffen und Asyl beantragen wollen oder aufgrund Unterkühlung des Körpers eine Spitalbehandlung brauchen, werden sie nach Belarus abgeschoben. Nach offiziellen Angaben kosteten diese Pushbacks bis jetzt 37 Personen das Leben, 300 werden vermisst. Die Protestbriefe der Personen des öffentlichen Lebens sowie der ukrainischen Hilfsorganisationen, die sich für diese Zwangsmigrant*innen einsetzen, bleiben unerhört. Der lokal engagierten und helfenden Bevölkerung sowie Aktivist*innen drohen Strafen.

Ambivalente Stimmungen

Entgegen der Prognosen von Expert*innen hat die ursprünglich positive Einstellung gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine (90% im April 2022) im Laufe der Zeit nicht deutlich nachgelassen, zumindest laut den meisten Umfragen. Aus der Studie des slowakischen Think-Tanks GLOBSEC „Perception of Ukrainian refugees in the V4“ geht hervor, dass 85% der befragten Pol*innen diese positiv wahrnehmen. Überraschend ist dabei, dass ein relativ hoher Anteil an jungen Menschen eine negative Wahrnehmung hat (35%), was mit der in sozialen Medien zirkulierenden Desinformation erklärt werden könnte. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt eine Studie von ZOIS: Obwohl junge Menschen in Polen mehrheitlich die Ukraine unterstützen, befürworten nur knapp über 24% eine langfristige Integration.

Ein abweichendes Bild zeigt ein Bericht der linken Zeitschrift Krytyka Polityczna: Die Unterstützung der Mehrheit sei heuchlerisch. Es dominiere auch der Neid, dass diese den gleichen Zugang zu Sozialleistungen (Gesundheitswesen, Kindergeld usw.) erhalten. Dieser Unmut könne bald von radikalen Akteur*innen politisch ausgenutzt werden.

Beunruhigende Zukunftsprognosen

Je länger der Krieg dauert und die ökonomische Situation für die Pol*innen immer schwieriger ertragbar wird, desto stärker könnte die Unterstützung nachlassen. Und um die ökonomische Lage in Polen kann man sich sorgen: Die Inflation liegt mit 17,2 Prozent im Jänner weit über dem EU-Durchschnitt, nur Ungarns Inflation ist höher, und bisher flossen aufgrund des Verfahrens wegen fehlender Rechtsstaatlichkeit auch noch keine Hilfsgelder aus dem EU-Aufbauplan nach Polen. All diese Faktoren erhöhen das Risiko der Instrumentalisierung der Geflüchteten zu politischen Zwecken durch rechtsradikale Parteien, insbesondere im Hinblick auf die nationalen Parlamentswahlen kommenden Herbst.

Ein Artikel in Kooperation mit:

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