Die strategische Außenpolitik des „Georgischen Traums“ – Wessen Traum wird nach den Wahlen in Erfüllung gehen?
Die Parlamentswahlen in Georgien vom 26. Oktober 2024 prägen weiterhin die politische Lage des Landes. Das Ergebnis der Wahlen ist nach wie vor umstritten, und damit die weitere politische Ausrichtung des Landes. Internationale Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter wiesen auf erhebliche Verstöße hin, die sowohl während des Wahlprozesses als auch im vorhergehenden Monitoring stattgefunden hatten.
Ein beträchtlicher Teil der georgischen Öffentlichkeit ist überzeugt, dass der „Georgische Traum“, die bisherige Regierungspartei, die Wahlen nicht gewonnen hat. Vielmehr hatten sie die Hoffnung auf eine Koalitionsregierung gesetzt, die sich aus den oppositionellen Parteien formen hätte sollen. Ein beispielloser Schritt in der Geschichte des Landes, in dem Koalitionsregierungen, im Gegensatz zu Österreich etwa, keine Tradition haben.
Wahlreformen und Widerstand: Georgiens Demokratie unter Druck
Nach Angaben der offiziellen zentralen Wahlkommission (ZWK) erhält die Partei „Georgischer Traum“ zum vierten Mal die parlamentarische Mehrheit und kann somit die Regierung stellen. Seit 2021 hat die Regierung das Wahlgesetz insgesamt 20- mal geändert, um den Einfluss der Opposition zu verringern. Dies hat letztlich dazu geführt, dass die ZWK Entscheidungen ohne die Zustimmungen der Opposition treffen kann. Eine Mehrheit von 8 vom Parlament gewählten Fachkräften plus 1 Vertreter der Regierungspartei, also des „Georgischen Traums“, reicht aus.
Der durch die ZWK zugesprochene Wahlsieg sorgte unter weiten Teilen der Bevölkerung für großes Aufsehen und legte den Grundstein für eine nach wie vor anhaltende, landesweite Protestwelle. Denn die Wahl wurde als „Schicksalswahl“ über die strategische außenpolitische Orientierung Georgiens angesehen. Geopolitische Fragen über die Annäherung Russlands standen der europäischen Integration gegenüber. Was ist also nach dem Wahlausgang zu erwarten? Werden die Proteste zu einer Neuwahl führen? Und wohin wird sich Georgien orientieren?
Bei der Einführung des „Agentengesetzes“ im Sommer 2024, hatte die Regierung die zivilgesellschaftlichen Proteste dagegen mit langem Atem ausgesessen. Die internationale mediale und politische Aufmerksamkeit war punktuell gegeben, aber nicht als Hebel nutzbar. Zu schnell wurde die Berichterstattung auf die Kriege im Nahen Osten und der Ukraine gelenkt. Eine ähnliche Strategie wird auch bei den nun stattfindenden Protesten erwartet. Aussitzen, die Proteste ermüden lassen, und zentrale Akteurinnen und Akteure der Bewegung verhaften. Bis sich die Lage beruhigt haben wird. Der „Georgische Traum“ wird mit hoher Wahrscheinlichkeit das Land weiterhin regieren.
Neue Allianzen und verlorene Freunde: Georgiens Zukunft im geopolitischen Umbruch
Der „Georgische Traum“ verfolgt eine sogenannte „Multi-Vektor-Außenpolitik“, was für die Regierungspartei eine komfortable Strategie bietet. So sucht die Partei angesichts der geschwächten euro-atlantische Integration nach Verbündeten unter autoritär geführten Staaten wie China, Iran und Belarus. Besonders wichtig ist dabei, dass im Rahmen dieses Ansatzes eine Art „Normalisierungspolitik“ gegenüber Russland auf der Tagesordnung bleibt. Diese zeigt sich in direkten Verbindungen zu Moskau, darunter Direktflüge, Visafreiheit und verstärkte Migration. (vgl. GIP)
Der Wahlsieg des „Georgischen Traum“ wurde von westlichen Partnern nicht unmittelbar anerkannt. Glückwünsche kamen aus Ländern wie Aserbaidschan, Armenien, der Türkei, Ungarn, Venezuela, China, dem Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Im Gegensatz dazu kündigten einige Länder, wie Schweden an, die Zusammenarbeit mit der georgischen Regierung einzustellen. (Vgl. Sweden Herland) Die Regierungen Deutschlands und der Vereinigten Staaten gaben bereits im Sommer 2024 nach der Verabschiedung des „Agentengesetzt“ bekannt, die Partnerschaft mit Georgien auszusetzten. Dies führte unter anderem zur Annullierung bereits geplanter gemeinsamer Militärübungen. (vgl. GFSIS)
Georgien verharrt in der außenpolitischen „Grauzone“
Im Schlussakt der Münchner Sicherheitskonferenz vom Februar 2024 betrachtete der Westen Georgien im Kontext der geopolitischen Orientierung als Teil einer „Grauzone“. (Vgl. Munich Security Report 2024)
Diese Zone ist durch eine unklare Formulierung der außenpolitischen Ziele definiert. Obwohl Georgien bestrebt ist, sich aus der russischen Einflusssphäre zu lösen und sich in Richtung euroatlantische Integration zu bewegen, ist gleichzeitig auch immer eine Betonung der guten Beziehungen zu Russland Teil der georgischen Politik. Ein politischer Konsens darüber, welches strategische Ziel prioritär verfolgt wird, fehlt. Sicher ist, dass ein Kompromiss zwischen euroatlantischer Integration und Annäherung an Russland kaum möglich ist.
Der „Georgische Traum“ scheint sein außenpolitisches Programm genau danach auszurichten, rhetorisch die euroatlantische Integration aufrecht zu erhalten, faktisch jedoch eine der Integration entgegengesetzte Politik zu verfolgen.
Strategische Widersprüche: Georgiens Außenpolitik im Spannungsfeld globaler Mächte
Der georgische Regierungschef und Vorsitzende der Partei, Irakli Kobachidse, skizziert die wichtigsten außenpolitische Ziele seiner Partei: (1) die Neuausrichtung der Beziehung zu den USA und der Europäischen Union, (2) eine pragmatische Politik gegenüber Russland sowie (3) die friedliche Beilegung des Konflikts mit Russland. (Vgl. Radio Liberty/ Wahlprogramm von georgischem Traum)
Kobachidse betonte wiederholt, dass die wichtigste nationale Aufgabe die Wiederaufnahme der Beziehung zu den USA und der Europäischen Union sei. Zudem ist er sich sicher, dass im nächsten Jahr, nach dem Ende des Krieges in der Ukraine, entsprechende Schritte Georgiens unternommen werden, die den Neustart der Beziehungen mit dem Westen gewährleisten.
Folgt man dem Programm, soll die europäische Integration eine außenpolitische Priorität bleiben. Außerdem soll entsprechend dem EU-Fahrtplan Georgien bis 2028 über 90% der Verpflichtungen aus dem Assoziierungsabkommen erfüllen, und ebenso 90% der Verpflichtungen aus dem vertieften und umfassenden Freihandelsabkommen (DCFTA) erreichen. Ein klarer Widerspruch zu den jüngsten Aussagen des Parteichefs, wonach bis 2028 Beitrittsgespräche mit der EU ausgesetzt werden sollen. (Vgl. Radio Liberty/ Wahlprogramm von georgischem Traum)
Georgiens außenpolitische Zwickmühle: NATO, China und die verfassungsrechtlichen Herausforderungen
Auch in der Verteidigungspolitik sucht der „Georgische Traum“ einen unmöglichen Brückenschlag rhetorisch zu verkaufen. Die Zusammenarbeit mit der NATO soll vertieft werden, gleichzeitig strebt die Regierung eine stärkere strategische Partnerschaft mit China an, sowohl aus wirtschaftlicher als auch aus politischer Sicht. Eine pragmatische und friedliche Politik gegenüber Russland wird ebenfalls als zentrale Priorität hervorgehoben.
Dies mag zwar durchaus die diffusen Präferenzen des georgischen Elektorats widerspiegeln (vgl. FES), ändert aber nichts an der Tatsache, dass die politische Realität die Widersprüche des Programms aufzeigt. Den politischen Akteuren muss klar sein, dass diese Ziele einander widersprechen und nicht gleichzeitig erreicht werden können. Faktisch zeichnet sich die Ausrichtung der Außenpolitik des „Georgischen Traums“ bereits ab, auch wenn rhetorisch und programmatisch versucht wird, ein anderes Bild zu entwerfen.
Von besonderer Bedeutung ist, dass der Beitritt Georgiens zur Europäischen Union eine Entscheidung des georgischen Volks darstellt, die in der Verfassung des Landes verankert ist. Dementsprechend kann eine offizielle Änderung der Politik nur durch eine Verfassungsänderung legitimiert werden. Aus genau diesem Grund wird die Einführung des Gesetzes „über die Transparenz ausländischer Einflussnahmen“ -also des Agentengesetzes- von Verfassungsjuristen und Expertinnen als verfassungswidrig angesehen, weil die EU mit dem Aussetzen der Beitrittsverhandlungen reagierte.
Die Zukunft Georgiens: Zwischen illiberaler Politik und der Chance auf europäische Integration
Derzeit ist vieles im Umbruch, die genauen Konturen der zukünftigen geopolitischen Positionierung Georgiens sind nur in Schattierungen erkennbar. Sollte die schrittweise, aber stetige Politik der Machtkonzentration und des Ausbaus illiberaler Politik beibehalten werden, müssen sich auch internationale Investoren und Unternehmen auf neue Rahmenbedingungen gefasst machen. Klientelismus, Rechtsunsicherheit und ausbleibende Handelserleichterungen mit der EU sind absehbar.
Eine Rückkehr Georgiens in den europäischen Orbit ist weiterhin möglich, wenn die georgische Regierung das „Agentengesetz“ aufhebt und nicht nur rhetorisch, sondern auch faktisch beginnt, wieder Schritte in Richtung Liberalisierung und Europa zu setzen.
Quellen:
- Georgian Institute of Politics (GIP): „Georgiens neuer geopolitischer Standort nach den Wahlen: wie grau ist die „Grauzone“ “? საქართველოს ახალი გეოპოლიტიკური ადგილი არჩევნების შემდეგ: რამდენად ნაცრისფერია „ნაცრისფერი ზონა“? | GIP
- Sweden Herlad: The Government Stops Cooperation with Georgia | Sweden Herald
- Munich Security Report 2024: Chapter 2 – Eastern Europe: Shades of Gray Zone – Munich Security Conference
- GFSIS-Georgian Foundation for Strategic and International Studies: gfsis.org/wp-content/uploads/2024/11/THE-EU-ACQUIS-2025-2030.pdf
- Radio Liberty: „“Georgischen Traum” stellte das Wahlprogramm vor.“ “ქართულმა ოცნებამ” საარჩევნო პროგრამა წარადგინა
- Friedrich Ebert Stiftung (FES) 2024: Spotlight – Georgia’s look to the future – One eye on Russia, the other on the West