Was Krieg bedeutet – eine Lektion aus der Ukraine

Was Krieg bedeutet – eine Lektion aus der Ukraine

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Jeden Tag sterben Menschen. Der Krieg in der Ostukraine, der 2014 begann, forderte nach Angaben der UNO über 14.000 Todesopfer. Seit 2022 tobt der große Krieg im ganzen Land. Die genauen Zahlen der Kriegstoten werden sowohl von russischer als auch von ukrainischer Seite geheim gehalten und bewusst niedrig angegeben. Es gibt daher nur realistische Schätzungen: Über 200.000 Soldaten, meist junge Menschen, sind auf beiden Seiten gefallen.

Hinzu kommen laut UNO-Angaben über 12.000 getötete Zivilist:innen – Opfer von Luftangriffen oder Landminen, vor allem in der Ukraine. In besonders durch Drohnen- und Raketenangriffe betroffenen Städten verbringen viele Menschen die Nächte in U-Bahnstationen oder Schutzbunkern. Häuser, Fabriken, Straßen, Brücken und Stromleitungen wurden zerstört. Landschaften wurden vergiftet, Felder konnten nicht bestellt werden. Unermessliche Werte wurden durch den Krieg bereits vernichtet. Viele wichtige zivile Aufgaben konnten in der Ukraine wie auch in Russland während der Kriegsjahre nicht umgesetzt werden.

Das Leid der ukrainischen Bevölkerung ergibt sich jedoch nicht allein aus den Folgen des russischen Waffeneinsatzes und den damit verbundenen Zerstörungen. Die Anforderungen des Krieges verändern den Alltag aller Ukrainer:innen.

Schon zu Beginn des Krieges gab es mehrere Millionen Binnenvertriebene. Viele Menschen flüchteten auch ins Ausland. In den drei Wochen nach Kriegsbeginn im Februar 2022 flohen laut UNO-Flüchtlingswerk bereits über 3 Millionen Menschen in andere Länder, und über 6 Millionen wurden zu Binnenvertriebenen. Inzwischen sind beide Zahlen weiter gestiegen.

Wie der Krieg die Ukraine innenpolitisch verändert hat

Auch die ukrainische Politik verändert sich im Krieg.Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden eingeschränkt. Im März 2022 wurden – zunächst durch einen Beschluss des ukrainischen Sicherheitsrates, später per Gesetz – elf Parteien verboten, darunter die größte Oppositionspartei, die insbesondere im Osten und Süden des Landes stark war. Bereits kurz vor Kriegsbeginn wurden TV-Sender und Medien mit dem Argument der Russlandnähe verboten. Seit Beginn des Krieges werden politische Nachrichten zentral gesteuert. Die Sicherheitsdienste erhielten mehr Macht, und die Präsidialverwaltung gewann größeren Einfluss auf den politischen Prozess. Selbst oppositionelle Kräfte, die sich eindeutig gegen Russland positionieren – wie die Partei des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko – wurden marginalisiert. Gegen Poroschenko wurden Sanktionen verhängt.

Im Kriegszustand kommt es nicht nur zu Einschränkungen politischer Rechte, sondern auch zu Beschneidungen bürgerlicher Freiheiten. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nur mit besonderer Genehmigung verlassen. Je länger der Krieg andauert, desto deutlicher wird der Mangel an wehrbereiten Männern. Die Zeit, in der sich viele Ukrainer freiwillig zum Dienst in der Armee meldeten, ist lange vorbei. Inzwischen versuchen viele Männer, sich der Wehrpflicht zu entziehen, und Vertreter der Mobilisierungsbehörden machen gezielt Jagd auf sie.

Nach dem neuen Wehrgesetz vom Mai 2024 sind alle wehrfähigen Männer verpflichtet, sich per App bei den zuständigen Rekrutierungsbehörden zu registrieren. Eine große Zahl hat dies bislang nicht getan. Infolgedessen greifen Rekrutierungsbeamte nun gezielt an öffentlichen Orten Männer auf und prüfen ihre Wehrpflicht. Da sich viele zur Wehr setzen, kommt es zu Gewaltanwendung und Zwangseinberufungen.

Ständig kursieren Videos, die solche Szenen dokumentieren – ebenso wie den spontanen Widerstand von Frauen und Männern gegen die Rekrutierung. Es gibt auch massenhafte Proteste gegen die gewaltsame Einziehung von Männern, bei denen diese aus Rekrutierungszentren befreit werden. Bei einer öffentlichen Veranstaltung in Berlin zur Veränderung des ukrainischen Alltags durch den Krieg berichtete kürzlich eine ukrainische Teilnehmerin, dass sogar Personen strafrechtlich verfolgt würden, wenn sie Videos solcher Szenen ins Internet stellen.

Das Aufkommen radikaler Kräfte in der Ukraine

Im Krieg wächst der Einfluss radikaler Kräfte.Kürzlich forderte der Blogger Serhij Prytula, bestimmten ukrainischen Bürgern staatsbürgerliche Rechte zu entziehen. Dies solle – nach dem Vorbild Lettlands und Estlands – für „wegen Hochverrats verurteilte Kollaborateure und Separatisten“, Angehörige der „Fünften Kolonne“, die ein antiukrainisches Narrativ verbreiten, sowie sogar für korrupte Beamte gelten.

„In diesen Fällen müssen wir ernsthaft über die Möglichkeit nachdenken, ihnen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Wenn man sein Land verrät, es blamiert und bestiehlt – wozu braucht man dann seinen Pass?“, schrieb Prytula auf seiner Facebook-Seite, wie das Nachrichtenportal „Strana“ berichtete.

Dieser Aufruf erfolgte kurz nach der Verabschiedung eines Gesetzes am 19. Juni 2025 durch die Werchowna Rada, das es ermöglicht, Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft – insbesondere mit russischer – die ukrainische Staatsbürgerschaft und den entsprechenden Pass zu entziehen.

Ein prominentes Beispiel dafür ist das Oberhaupt der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK), Metropolit Onufrij. Ihm wurde die ukrainische Staatsbürgerschaft aberkannt. Grundlage dieser Maßnahme, die vom Geheimdienst initiiert und vom Präsidenten vollstreckt wurde, ist die Behauptung, Onufrij habe im Jahr 2002 die russische Staatsbürgerschaft angenommen – ein Vorwurf, den er und seine Kirche bestreiten.

Die UOK ist die größte orthodoxe Kirche der Ukraine. Sie ist jedoch seit September letzten Jahres durch ein Gesetz von einem Verbot bedroht. Ihr wird eine frühere Bindung an die Russisch-Orthodoxe Kirche vorgeworfen – eine Verbindung, die sie nach Beginn des Krieges bereits offiziell aufgegeben hat. Dennoch wird der UOK seither wiederholt die Nutzung von Kirchengebäuden entzogen, die stattdessen an die staatsnahe Orthodoxe Kirche der Ukraine übertragen werden.

Die wichtigste Lektion aus der ukrainischen Erfahrung: Frieden durch Verträge sichern

Diese und andere staatliche Maßnahmen, die der Unterordnung des gesamten Lebens unter die harten Zwänge der Verteidigung dienen, zeigen: Ein Krieg verändert auch die angegriffene Gesellschaft grundlegend. Die Spuren der beschriebenen innerstaatlichen Gewalt werden noch lange nach dem Ende des Krieges nachwirken. Der Wiederaufbau muss nicht nur die materiellen Verluste ausgleichen – er wird sich auch mit den Traumata solcher autoritärer Maßnahmen auseinandersetzen müssen.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung in Berlin zum Einfluss des Krieges auf den ukrainischen Alltag waren sich darin einig, dass ein Krieg auch jedes andere europäische Land tiefgreifend verändern würde. Schon in der aktuellen Phase umfassender Aufrüstung zeigt sich die Gefahr einer zunehmenden politischen Polarisierung des öffentlichen Lebens.

Wer an einem stabilen demokratischen Alltag in seinem Land interessiert ist, sollte aus den Erfahrungen der kriegsgeplagten Ukraine lernen: Nur wenn in einer neu geschaffenen europäischen Ordnung die Sicherheitsinteressen aller Staaten gleichermaßen berücksichtigt werden, kann es gelingen, zwischenstaatliche Konflikte friedlich zu lösen und den Krieg dauerhaft aus Europa zu verbannen.

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