Was treibt die Visegrádstaaten in eine Opposition zur EU?
Lange Jahre war die Zusammenarbeit im Rahmen der Visegrád-Gruppe keine Erfolgsgeschichte. Die Interessen der beteiligten Staaten waren zu divergent. Das scheint sich jüngst geändert zu haben. Zwei Meldungen der letzten Monate aus der EU belegen das: Ende Juni blockierten die vier Staaten den geplanten Beschluss des EU-Rates, bis 2050 ein CO2-neutrales Wachstum zu erreichen. Anfang Juli haben die Visegrád 4 und Italien die während des G20 Gipfel in Osaka zwischen Frankreich und Deutschland vereinbarte Wahl von Frans Timmermans zum EU-Kommissionsvorsitzenden erfolgreich blockiert. Was steht hinter diesen Entwicklungen und was ist für die Zukunft zu erwarten?
Unmittelbarer Anlass: die „Flüchtlingskrise“ 2015
Zunächst einmal begann die einheitliche Opposition der vier ostmitteleuropäischen Staaten nicht erst in diesem Jahr sondern spätestens in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015. Die Krise entstand bekanntlich nicht einfach wegen der zeitweise offenen Grenzen und der massenhaften illegalen Einreise von Hunderttausenden Menschen, sondern deshalb, weil die vereinbarten EU-Abkommen in dieser Frage problematische Regeln bzw. Versäumnisse enthalten. Am schwerwiegendsten war die Vereinbarung, dass die Asylsuchenden ihr Verfahren im ersten Staat der EU, den sie betreten, erhalten müssen und aus anderen Staaten, in die sie weitergereist sind, zurückverwiesen werden sollen. Damit wurden die Anrainerstaaten des Mittelmeers, besonders Italien und Griechenland, aber auch Spanien und Bulgarien, besonders belastet. Weiterhin erwies es sich als problematisch, dass die Bedingungen des Aufenthalts für die Asylsuchenden in den verschiedenen Mitgliedsstaaten extrem unterschiedlich sind. Diese Unterschiede führten dazu, dass geflüchtete Menschen 2015 meist in jene Staaten strebten, die ihnen diesbezüglich die besten Bedingungen gewährten, wie etwa Deutschland oder Schweden.
Angesichts dieser Ungleichbelastungen beschlossen die EU-Innenminister im September 2015 die Umsiedlung von 120.000 Flüchtlingen nach Quoten in alle Mitgliedsstaaten. Die vier Visegrádstaaten stimmten dagegen, Finnland enthielt sich. Das änderte aber nichts an der Gültigkeit des Beschlusses, der mit qualifizierter Mehrheit gefasst wurde. In der Folge protestierten die Regierungen der vier ostmitteleuropäischen Staaten lautstark gegen diese Umverteilung nach Quoten. Ungarns regierende Partei Fidesz macht im Land Stimmung „gegen das Diktat aus Brüssel“. Tschechien bemühte sich um Rechtfertigung der eigenen Position, indem der Staat den Schutz der Außengrenze aktiv unterstützte, sowie durch symbolische Beiträge vorgab, etwas gegen die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu unternehmen. Besonders skurril war etwa der Versuch, den Protest gegen die Umverteilung nach Quoten allein als Schutzmaßnahme gegen kulturelle Überfremdung darzustellen: Vor dem Hintergrund der strikten Ablehnung einer Einwanderung von MuslimInnen erklärte man sich bereit, eine Gruppe christlicher SyrerInnen aufzunehmen. Diese Gruppe allerdings wollte gar nicht in Tschechien bleiben. Sie setzte sich nach einigen Tagen in Richtung Deutschland ab, da dort Verwandte lebten.
In dieser Frage zeigt sich bereits, dass die ablehnende Haltung der Visegrádstaaten gegen EU-Maßnahmen nicht ohne jegliche gute Gründe ist. Man könnte natürlich, anstatt in der „Flüchtlingsfrage“ immer nur mit dem Finger auf die ablehnende Haltung der Ostmitteleuropäer zu verweisen, auch danach fragen, warum die offensichtlichen Mängel in der EU-Migrationspolitik nicht energischer durch bessere Beschlüsse behoben werden. Die Last der Asylverfahren einfach den Staaten an den Außengrenzen zu überlassen oder die Unfähigkeit, die Versorgung der Asylsuchenden in allen Staaten auf dem gleichen Niveau zu sichern, ist den vier Staaten jedenfalls nicht zuerst anzulasten.
Ungleichheiten im „einheitlichen Binnenmarkt“
Gibt es auch einen tieferen Grund hinter den oben genannten jüngsten Aktionen der Visegrád 4? In einigen Blogs, die mit der europäischen Sozialdemokratie verbunden sind, wurde in der letzten Zeit von einer Ost-West-Konfliktlinie innerhalb der EU gesprochen[1]. Das Argument, mit dem die wichtigste Ursache diese Teilung beschrieben wird, ist interessant und soll hier wiederholt werden: Es wird festgestellt, dass die pauschalen Etiketten „Europafeinde“ für die ostmitteleuropäischen Staaten und „Europafreunde“ für die Staaten Westeuropas nicht passen. Es handelt sich nicht vorwiegend um kulturelle Rückständigkeit gegenüber dem Europa, das seine Werte hochhält und verteidigt, auch wenn es zunächst so scheint. Hinter der Opposition der Politiker (und vor allem hinter der mehrheitlichen Unterstützung, die jene in ihren Ländern bekommen) steht die Ablehnung einer Haltung, die als arrogant empfunden wird. In Westeuropa herrsche oft genug das Gefühl vor, dass „die Osteuropäer“ lange genug „aufgepäppelt“ wurden, dass sie sich aber nicht dankbar genug zeigen. In Osteuropa hingegen existiert die Erfahrung, dass von der wirtschaftlichen Kooperation der Westen mehr profitiert als die eigene Bevölkerung. „Ausländisches Kapital wird zwar investiert, aber die Gewinne größtenteils wieder abgezogen. Immobilienpreise erreichen fast westliche Höhen. Die Preise für Waren und Dienstleistungen haben vielerorts fast westeuropäisches Niveau erreicht […] Der tschechische und ungarische Mindestlohn betragen selbst kaufkraftbereinigt nur die Hälfte des deutschen, das Argument der ‚niedrigeren Löhne, dafür aber auch der Preise‘ gilt also nicht.“[2] Die Empörung über die vermutete niedrigere Qualität westlicher Markenprodukte, die speziell für Osteuropa produziert werden, ist angesichts dieser Realität nachvollziehbar.
Ost-West-Entfremdung in der EU und ein möglicher Ausweg
Den Hintergrund der Bemühungen, die eigene Autonomie innerhalb der EU zu verteidigen, bildet nach Meinung der zitierten BeobachterInnen das fundamentale wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen europäischem Kernland und seiner Peripherie, das sich im Verlaufe der Transformation Osteuropas gefestigt und nicht vermindert hat. Die „Konfliktlinie verläuft nicht zwischen „Europafreunden“ und „Europafeinden“, sondern zwischen Gewinnern und Verlierern der Eurozone und des Binnenmarktes, materiell florierenden Zentren und materiell sowie symbolisch abgehängten Peripherien auf allen Ebenen“[3]. In diesen erlebten Gegensätzen und verfestigten Strukturen findet auch der Nationalismus und Populismus in Osteuropa starke Nahrung.
Natürlich ändert diese Einsicht nichts
daran, dass die Haltung der Visegrád-Regierungen in der Frage der Klimapolitik
oder in der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten zu kritisieren ist. Aber sie
sollte uns dazu führen, in der Suche nach Erklärungen stärker auf die
tieferliegenden Grundlagen der Entfremdung zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zu
schauen und sich danach um deren Überwindung zu bemühen.
[1] Eszter Kovacs/Katerina Smejkalova: Macht statt Moral. Der Rechtspopulismus in Osteuropa wird genährt durch die Arroganz des Westens und wirtschaftliche Ausbeutung, veröffentlicht am 26.Juni 2019 in „IPG“, https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/detail/macht-statt-moral-3554/ (aufgerufen am 10.07.2019) – auch veröffentlicht unter dem Titel „East-West Divide“ in „Social Europe“ am 8. Juli 2019; sowie den Beitrag von Alina Bârgăoanu und Clara Volintiru: How the EU can prevent an east-west-divide between its members, in “Social Europe” am 14. Mai 2019.
[2] Siehe Kovacs/ Smejkalova: Macht statt Moral, soeben zitiert.
[3] Siehe Ebenda.